Page 69 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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               Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschimg.  57

     der Greraden« schlechthin.   »Den Begriff der Geraden anzweifeln,
     statt ihn als gegeben anzunehmen, heißt den Irrgängen derer folgen,
     welche das Merkmal der unbedingten "Wahrheit suchten« ^'^^).  Diesem
     und den daran anschheßenden Sätzen Johanne sson's ist entgegen-
     zuhalten,  dass weder Neumann,    noch irgend  einer  seiner Nach-
     folger mit der geübten Kritik jemals den »Begriff der Geraden« hat
     treffen wollen; denn es  ist doch zweierlei, ob  ich die dogmatische
     beziehungslose  Geradlinigkeit  einer Punktbahn,  oder ob  ich den
     »Begriff der Geraden« anzweifele!
         Wenn Johannesson dann        fernerhin  die von mir  adoptirte
     Neu mann 'sehe   Definition  gleicher  Zeitabschnitte  als  ungeeignet
     bezeichnet,  »die Zeitmessung zu verbessern«, und wenn er meint,  sie
     setze »der gangbaren Zeitvorstellung nur begriffliche Schrauben sm*^^^],
     so möchte ich mir dazu folgende Bemerkung erlauben.   Erstens will
     die Definition der Inertial-Zeitscala, so wie ich wenigstens dieselbe
     auffasse,  gar  nicht  die  gewöhnhchen  praktischen  Zeitmessungen
     ersetzen, sondern lediglich den Charakter derselben  als partieller
     Conventionen im Sinne eines methodologischen Prototyps feststellen.
                    (von Johannesson    gebilligte) Bezugnahme auf den
     Auch Mach 's
     Drehungswinkel der Erde ist nichts anderes als eine praktische Aus-
     gestaltung der prototypischen Idealconstruction der Inertial-Zeitscala
     und  dieses Protot3rp  zeichnet  überdies  auf  jeder Stufe der physi-
     kalischen, bezw. astronomischen Erkenntniss den Weg vor, auf welchem
     eine höhere Präcision der praktischen Zeitmessung sich wii'd erreichen
     lassen.  Aber Johannesson erhebt noch einen weiteren Einwand:
     die  Gleichheit  zweier Strecken  sei nämlich »eben so schwierig zu
     begreifen, als die Gleichheit zweier Zeiten«  i^^j.  Er führt als angeb-
     lichen Beweis dafür den Einfluss des Druckes und der Temperatur
     auf  die Länge von Maßstäben   ins Feld.  Es ist nun  ja unbestreit-
     bar richtig, dass der praktisch genaue Nachweis der Gleichheit zweier
     Strecken durch  die Veränderlichkeit des Körperlichen erhebhch er-
     schwert wird.  Allein der durch logische Abstraction aus der Er-
     fahrung  gewonnene Begriff     »gleich großer    Strecken«    wird
     davon doch nur wenig berührt; während der nicht räumlich fundirte
     Begriff gleicher Zeitabschnitte, wie er unserem Kritiker als Gnind-
     lage der Mechanik offenbar vorschwebt, die Abstraction eines psycho-
     logischen Datums von   solcher UnZuverlässigkeit  ist, dass man ihn
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