Page 67 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschung.  55

     H. Hertz    heraus.  Bei  der  allgemein  sehr hoch  eingeschätzten
     Bedeutung, die dieses Werk für das Gesammtgebiet der mathemati-
     schen Physik beanspruchen darf, und in Anbetracht des TJmstandes,
     dass  die Urtheile der Zeitgenossen über den Sinn und Werth der
     Hertz'schen Fundamentänderung noch immer nicht in einheithchem
     Sinne geklärt zu sein scheinen, muss hier auf eine dem "Werk gerecht
     werdende Darstellung des von seinem Urheber angestrebten allgemeinen
     Zieles verzichtet werden.  Sicher  ist vor allem das  eine, dass  die
     von Hertz versuchte Zurückführung    der Femkräfte auf cyclische
     Zwangläufigkeiten weiter verfolgt zu werden verdiente, als es bisher
     geschehen  ist.  Freihch, um   die  supponirten  Zwangläufigkeiten
     physikalisch zu erklären, würde man den Satz von der Undurch-
     dringhchkeit und Starrheit  fester Körper  (letzteres bekannthch  ein
     sehr cum grano sahs zu nehmendes  > Gesetz«) kaum entbehren können;
     damit würden  aber  offenbar Contactkräfte  in die Grundlagen der
     Mechanik eingeführt, die ihrem Wesen nach schheßHch nicht erklär-
     hcher  sind,  als Femkräfte.  Anderseits würde,  wie schon Mach
     betont hat^Qj^ zum Zwecke einer  > ökonomischen« Idealreconstruction
     realer  dynamischer Phänomene,  als  Basis  auch  die  rein  formal-
     mathematische Definition der Zwangläufigkeit — ohne physikalischen
     Hintergrund — ausreichen.
        Wir haben bekanntlich zwei Richtungen in der neueren Theorie
     der Materie nebeneinander:  die eine, atomistische, will die Contact-
     wirkungen auf Femkräfte in hypothetischer Weise zurückführen; die
     andere  sucht  gerade umgekehrt  die Fernkräfte zu erklären.
     Bei der EndHchkeit des Menschengeistes wird man bekanntlich nie
     über gewisse unerklärt bleibende Erkemitnisselemente hinauskommen,
     und es dürfte im Princip ziemlich gleichgültig sein, ob man die Er-
     kenntnissreihe von vom nach hinten, oder von hinten nach vom liest.
     Beide Weisen haben unzweifelhaft ihre Berechtigung.  Den Vorzug
     würde höchstens diejenige Darstellung verdienen, welche im Mach-
     schen Sinne »ökonomischer« oder, in der Sprechweise der Mathematiker
     ausgedi'ückt,  eleganter  erscheint.  Und da wird wohl allgemein an-
     erkannt werden,  dass manche Ableitungen  der Hertz'schen Ideal-
     mechanik diesem Ziel der Einfachheit und Eleganz in überraschendem
     Maße gerecht geworden sind.
        Die Hertz'sche Grundlegung als solche scheint mir gleich-
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