Page 173 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          5.6  •  Ein Übungsfall


          EuGH anrufen, wenn sie der Meinung sind, ein Mitgliedstaat
          überschreite die ihm gewährten Ausnahmen.


          5.6   Ein Übungsfall


          Ob man das Gelesene auch wirklich verinnerlicht hat, damit um-
          gehen kann, und ob man sich durch neue Sachverhalte nicht ver-
          unsichern lässt, sollte man immer an einem Fall ausprobieren. Die
          Italienerin Paola Faccini Dori hat der Europarechtswissenschaft
          einen solchen Fall beschert (Faccini Dori, Slg. 1994, I-3347):
          Auf den ersten Blick erscheint der Mailänder Hauptbahnhof zwar
          nicht als besonders günstiger Platz für Vertragsabschlüsse, aber
          davon scheint es Ausnahmen zu geben. Frau Faccini Dori wurde
          am 19.1.1989 von einem Mitarbeiter der Firma Interdiffusion
          Srl (I. Srl) im Gebäude des Hauptbahnhofes angesprochen und
          schloss mit der Firma einen Vertrag über einen Englisch-Fernkurs
          zum Preis von 589.000 Lire (ca. 260 EURO) ab. Es versteht sich von
          selbst, dass der Vertragsabschluss außerhalb der Geschäftsräume
          der I. Srl stattfand.
          Faccini Dori überlegte es sich jedoch anders, und bei der I. Srl ging
          am 23.1.1989 ihr Widerruf des Vertrages ein. Danach passierte zu-
          nächst nichts. Am 3.6.1989 erreichte Faccini Dori ein Schreiben der
          I. Srl, in dem diese die Abtretung der Kurskostenforderung an die
          Recreb Srl (R. Srl) bekannt gab. Am 24.6.1989 bestätigte Faccini Dori
          der R. Srl schriftlich den Widerruf ihrer Vertrags-Annahmeerklärung.
          Dabei berief sie sich u. a. auf die EWG-RL 85/577 über außerhalb von
          Geschäftsräumen geschlossene Verträge. Die RL intendiert allge-
          mein die Harmonisierung und Verbesserung des Verbraucherschut-
          zes bei Haustürgeschäften und sonstigen derartigen Verträgen. Das
          Überraschungsmoment, das der Verkäufer oftmals zu einem Ver-
          tragsabschluss nutze, solle eliminiert werden. Die RL enthält auch
          ein Widerrufsrecht des Bestellers, das er im Zeitrahmen von sieben
          Tagen ausüben kann. Die RL hätte am 23.12.1987 spätestens umge-
          setzt werden müssen. Italien hat die Umsetzung aber bis Ende 1989
          nicht vorgenommen. Die Firma R. Srl mochte der Rechtsauffassung
          von Frau Faccini Dori nicht folgen und erwirkte am 20.11.1989 vor
          dem Giudice Consiliatore Florenz (GCF) einen Mahnbescheid (ge-
          richtliche Zahlungsaufforderung im vereinfachten Verfahren) auf
          Zahlung der Kursentgelts plus Zinsen und Kosten. Faccini Dori
          legte dagegen unter erneuter Berufung auf die RL beim GCF Wi-
          derspruch ein. Die entsprechenden Richtlinienbestimmungen sind
          hinreichend genau und bestimmt.
          Der GCF stand somit vor der Frage, ob sich für Faccini Dori ein
          Widerrufsrecht aus der RL ergab. Das Gericht hat dem EuGH gem.
          Art. 234 E[W]GV (nun Art. 267 AEUV) eine entsprechende Frage
          zur Beantwortung vorgelegt.
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