Page 175 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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5.6 • Ein Übungsfall
Aber auch gegen die h. Dw. werden beachtliche Argumente an-
geführt.
Der Wortlaut des Art. 288 AEUV legt fest, dass RL „für jeden Mit-
gliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Zieles“ verbindlich
sind, also nicht für Privatpersonen. Der Heranziehung des Wort-
lauts lässt sich allerdings vom Sinn und Zweck der RL her entge-
genhalten, dass den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Ziele keiner-
lei Gestaltungsspielraum bleibt. Zu den verbindlichen RL-Zielen
gehört es regelmäßig, Schutznormen zu erlassen. Dazu haben
nur die Mitgliedstaaten die Kompetenz. Über die Adressierung
der Umsetzungsverpflichtung an die Mitgliedstaaten hinaus sagt
der Wortlaut des Art. 288 AEUV also überhaupt nichts über die
h. Dw. Es spricht insoweit nichts dagegen, RL auch h. Dw. zuzu-
messen.
Ein schlagkräftiges Argument gegen h. Dw. sind die rechtlichen Argumente gegen eine hori-
Nachteile dritter Privatpersonen. Privatpersonen, die sich im Rah- zontale Drittwirkung
men der Rechtsordnung eines Mitgliedstaates verhalten, würden
bei h. Dw. durch eine nicht an sie gerichtete RL, die sogar nicht
einmal umgesetzt ist, rechtlich belastet.
Ein wichtiges Element einer belastenden Regelung ist immer de- Nachteile bei Dritten
ren Veröffentlichung in allgemein zugänglichen Quellen. RL auf Schutzwürdiges Vertrauen
der Basis des EWGV mussten nicht zwingend publiziert werden.
Dies ist allerdings nach dem AEUV anders, RL werden im Amts-
blatt L 1 veröffentlicht (Art. 297 AEUV). Im Falle Faccini Dori war
das aber noch nicht Pflicht, so dass die Belastung Dritter ein nicht
wegzuargumentierendes rechtsstaatliches Problem darstellt.
Das Vertrauen der Belasteten auf die fehlende h. Dw. ist im Üb-
rigen durchaus schutzwürdig. Das ändert sich allerdings, wenn
eine RL veröffentlicht ist und sobald ein Mitgliedstaat die Um-
setzungsfrist ungenutzt hat verstreichen lassen. Ein Vertrauen in
ein unionsrechtswidriges Handeln eines Mitgliedstaates ist wohl
kaum schutzwürdig. Schließlich wird gegen die h. Dw. angeführt,
dass sie das Gleichgewicht zwischen EU- und mitgliedstaatlichen
Kompetenzen verschiebe, weil die nationalen Parlamente über-
gangen würden. Dieses Argument ist aber nicht sehr gewichtig,
denn die mitgliedstaatlichen Parlamente haben es in der Hand,
das Gleichgewicht durch eine rechtzeitige Umsetzung zu wahren.
Die Vermutung, die h. Dw. werde die Mitgliedstaaten erst recht
veranlassen, bei der Umsetzung die Fristen zu überschreiten,
überzeugt nicht, weil die Rechtspflicht der Mitgliedstaaten be-
stehen bleibt. Im Übrigen könnten die Mitglieder auch gerade
darauf erpicht sein, der h. Dw. zuvorzukommen.
Nach der Erörterung der Argumente ist sich für eine Meinung zu
entscheiden. Man befindet sich, insbesondere unter Beachtung
der Drittbelastung bei Annahme der h. Dw. von RL, auf sicherem
Boden, wenn man mit dem EuGH eine h. Dw. ablehnt. Die Gegen-
meinung verbucht aber ebenfalls sehr gute Argumente für sich.