Page 275 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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6.12 • Ein Übungsfall
gegen. Im Ergebnis wird das Kompetenzsystem der Verträge
in bestimmten Krisensituationen durchbrochen und die Mit-
gliedstaaten berechtigt, die notwendigen Maßnahmen zu tref-
fen. Ob eine Embargomaßnahme gegen sonstiges Völkerrecht,
etwa GATT (1994), verstößt, ist eine Frage, die unabhängig von
den Kompetenzgrundlagen der Verträge zu beantworten ist.
6.12 Ein Übungsfall
Noch einmal zurück zur Dienstleistungsfreiheit. In diesem Bereich
gibt es eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung des EuGH. Ein
Beispiel dafür ist folgender Fall:
Der Belgier Raymond Van der Elst betreibt in Brüssel ein Spezialab- Tatbestand erfassen mit Defi-
bruchunternehmen. In seiner Firma beschäftigt Van der Elst nicht nition, Auslegung
nur Belgier, sondern seit Jahren auch einige Arbeiter marokkani-
scher Staatsangehörigkeit.
Der Aufenthalt und die Tätigkeit dieser Arbeiter in Belgien ist
rechtmäßig. Sie besitzen alle eine Aufenthaltsgenehmigung und
eine Arbeitserlaubnis, nehmen am belgischen Sozialversiche-
rungssystem teil und werden in Brüssel bezahlt.
Im Jahr 1989 sandte Van der Elst zur Erledigung eines Auftrags
eine Gruppe von vier belgischen und vier marokkanischen Arbei-
tern nach Reims in Nordostfrankreich. In Reims waren an einem
Gebäude, dem „Château Lanson“, einmonatige Abbruch- und Bau-
stoffrückgewinnungsmaßnahmen durchzuführen.
Alle acht Arbeiter waren dauernd bei Van der Elst beschäftigt. Für
die marokkanischen Arbeiter hatte er vorher vom französischen
Konsulat in Brüssel einen Monat gültige Sichtvermerke für den
Aufenthalt besorgt.
Im April 1989 kontrollierte die französische Gewerbeaufsichtsbe-
hörde die Baustelle im „Château“. Die Beamten monierten, dass
die vier Marokkaner eine französische Arbeitserlaubnis benötigt
hätten. Daher verstoße ihre Tätigkeit gegen das französische
Recht. Der Sichtvermerk sei nicht ausreichend.
Nach französischem Recht müssen Ausländer für eine Arbeit-
nehmertätigkeit in Frankreich einen Sichtvermerk, einen amtlich
beglaubigten Arbeitsvertrag, ein ärztliches Zeugnis und weitere
Papiere dem OMI (Office des Migrations Internationales – Büro
für internat. Wanderungsbewegungen) vorlegen. Ausländische
Arbeitnehmer, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, dürfen
von niemandem beschäftigt werden. Bei Zuwiderhandlungen
wird ein hoher Sonderbeitrag zugunsten des OMI fällig.
Das OMI erhob von Van der Elst einen Beitrag von 121.520 fran-
zösischen Francs, etwa 17.500 €. Dieser Beitrag wurde zwar nach-
träglich um 3/4 reduziert, Van der Elst war aber trotzdem nicht