Page 276 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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270  Kapitel 6  •  Materielles Recht und Rechtsschutz in der EU


                                  damit einverstanden. Nach seinem Einspruch beim OMI, der zu-
                                  rückgewiesen wurde, klagte er beim Tribunal Administratif (TA,
                                  Verwaltungsgericht) gegen den Bescheid.
   2                              Zur Begründung seiner Klage führte Van der Elst an, die streitigen
                                  Normen des französischen Arbeitsgesetzbuches (Code du Travail)
                                  verstießen gegen die Art. 56 ff. AEUV.
          Zwei Fallfragen         Fragen:
                                  1.  Wie wird das Verwaltungsgericht mit der Rechtsbehauptung
                                     Van der Elsts umgehen?
                                  2.  Hat er mit seiner Behauptung Recht?
                                  Frage 1:
                                  Zu prüfen ist, welche Schritte das VG in Bezug auf die Rechtsbe-
   6                              hauptung vornehmen wird.
                                  Gemäß Art. 267 AEUV sind nationale Gerichte stets verpflichtet,
                                  bei der Bearbeitung ihrer Fälle das Unionsrecht zu beachten und
                                  anzuwendenden.
                                  Ergibt sich  in einem Prozess für ein  Gericht eine Rechtsfrage
                                  des Unionsrechts, so ist fraglich, ob das Gericht dem EuGH nach
                                  Art. 267 II AEUV die Frage vorlegen kann, wenn es das für nötig
                                  hält, oder nach Abs. 3 vorlegen muss, oder trotz Abs. 3 die Frage
                                  selbständig entscheiden darf. Der EuGH sichert mit der zentra-
                                  len Auslegung und Gültigkeitsbeurteilung des Unionsrechts die
                                  Rechtseinheit in den Verträgen.
                                  Im Sachverhalt handelt es sich um eine Auslegungsfrage des Uni-
   2      Auslegungsfrage         onsrechts, nämlich:
                                  Läuft es den Art. 56/57 AEUV zuwider, dass ein Mitgliedstaat in
                                  einem anderen Mitgliedstaat ansässige Unternehmen, die zur
   2                              Erbringung einer Dienstleistung auf seinem Gebiet tätig wer-
                                  den und die Angehörige von Drittstaaten ordnungsgemäß und
   2                              dauerhaft beschäftigen, unter Androhung einer Geldbuße dazu
                                  verpflichtet, bei einer nationalen Behörde für diese Arbeiter eine
   2                              Arbeitserlaubnis einzuholen?
                                  Nationale nicht letztinstanzliche Gerichte sind berechtigt, solche
                                  Auslegungsfragen dem EuGH vorzulegen, Art. 267 II, I lit. a AEUV.
   2                              Ob das französische VG ein letztinstanzliches Gericht ist, ist nach
                                  dem Sachverhalt nicht zu beantworten, daher kann auch in einer
   2                              Prüfungsarbeit keine Antwort erwartet werden. Es spielt hier also
                                  keine Rolle, ob man der konkreten oder der abstrakten Betrach-
                                  tung der Letztinstanzlichkeit folgt.
   2                              Da Van der Elst in Frankreich eine Dienstleistung erbringt, wäre
                                  es durchaus denkbar, dass seine Tätigkeit und damit die seiner
   2                              Arbeiter vom AEUV erfasst wird. Eine gesicherte Rechtspre-
                                  chung des EuGH besteht für die vorliegende Fallkonstellation
   2                              nicht. Daher ist zu erwarten, dass das TA dem EuGH vorlegen
                                  wird.
                                  Im Fall Van der Elst ist das TA Châlons-Sur-Marne dementspre-
                                  chend verfahren.
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