Page 270 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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264 Kapitel 6 • Materielles Recht und Rechtsschutz in der EU
um Rechte bis zu einem endgültigen Urteil zu sichern und/
oder vollendete Tatsachen zu verhindern. Bei Auslegungsfra-
gen besteht keine Vorlagepflicht nach Abs. 3, wenn im Haupt-
2 verfahren eine Vorlage möglich ist.
Einstweiliger Rechtsschutz Anders ist das bei Gültigkeitsfragen. Nach dem Zuckerfa-
brik Süderdithmarschen-Urteil des EuGH (Slg. 1991, S. I-415)
darf ein nationales Verwaltungsgericht die Vollziehung eines
auf EU-Recht beruhenden staatlichen Verwaltungsaktes nur
dann vorläufig aussetzen, wenn es erhebliche Zweifel an der
Gültigkeit des Sekundärrechtsaktes hat, keine vollendeten Tat-
sachen durch die Aussetzung geschaffen werden, und wenn
die Voraussetzungen für einstweilige EuGH-Anordnungen
6 (Art. 279 AEUV) beachtet werden, insbesondere Dringlichkeit
und hinreichende Erfolgsaussicht im Hauptsacheverfahren. Je-
doch muss das nationale Gericht weiterhin vorlegen.
EuGH ist gesetzlicher Richter - Eine Verletzung der Vorlagepflicht ist eine Vertragsverlet-
im Sinne des Art. 101 I 2 GG. zung und kann nach Art. 258 oder Art. 259 AEUGV zu
Willkür einer Klage gegen den Gerichtsstaat führen. Außerdem
hat die Verletzung der Vorlagepflicht im innerstaatlichen
Recht Konsequenzen. Da der EuGH „gesetzlicher Rich-
ter“ im Sinne des Art. 101 I 2 GG ist (BVerfGE 73, 339,
Solange II), wird mit der rechtswidrigen und gleichzei-
tig willkürlichen (BVerfGE 75, 223, Kreditvermittlerin)
Unterlassung der Vorlage das Recht auf den gesetzlichen
2 Richter verletzt. Nach der Rspr. des BVerfG kann Willkür
in drei Fallgestaltungen vorliegen. Erstens, wenn ein
letzt instanzliches Gericht seine Vorlageverpflichtung
2 grundsätzlich verkennt. Zweitens, wenn zu einer entschei-
dungserheblichen Frage des Unionsrechts noch keine
2 einschlägige Rechtsprechung des EuGH vorliegt. Der
dritte und in der praktischen Anwendung häufigste Fall
beschäftigt sich mit der möglichen Weiterentwicklung der
2 Rechtsprechung des Gerichtshofes. Wenn diese zu einer
bestimmten Fragestellung noch möglich erscheint, so liegt
2 Willkür vor, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm
zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer
2 Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann
möglich sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der
entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts ge-
2 genüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig
vorzuziehen sind (1 BvR 1036/99, BVerfG, Beschluss v.
2 9.1.2001, Rdnr. 18). Ein die Vorlagepflicht verletzendes
Urteil würde somit vom BVerfG aufgehoben und zur
erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
2
Bindung an die Entscheidung Das dem EuGH vorlegende Gericht ist an dessen Entscheidung
des EuGH gebunden ist (Wünsche III, Slg. 1986, 947). Andere Gerichte