Page 269 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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6.10 • Der Rechtsschutz gegen Unionsrecht
die abstrakte Theorie nicht mehr vertreten wird. Die Ver-
fassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht ist
kein Rechtsmittel i. S. d. Art. 267 III AEUV. Die Möglich-
keit ihrer Einlegung schließt folglich die Vorlagepflicht
- Wichtig ist: Zulassungsgründe für Berufung und
nicht aus.
Revision des deutschen Rechts (z. B. § 543 II 1 ZPO:
grundsätzliche Bedeutung) sind wegen des Vorrangs des
Unionsrechts europarechtskonform zu interpretieren und
Berufung/Revision sind zuzulassen, wenn die Notwen-
- Bei Auslegungsfragen besteht die Vorlagepflicht letzt- Ausnahmen von der Vorlage-
digkeit einer Vorlage nach Art. 267 AEUV besteht.
instanzlicher Gerichte ausnahmslos, es sei denn, die
Auslegungsfrage war vorher bereits Gegenstand einer pflicht bei Auslegungsfragen
Offenkundigkeit der Aus-
ähnlichen oder gleichen Vorlage eines anderen Gerichts legung
(Da Costa en Schaake, Slg. 1963, 63) oder eine gesi-
cherte Rechtsprechung des EuGH zu der Frage liegt vor
(CILFIT, Slg. 1982, 3415). Ferner entfällt die Vorlagever-
pflichtung, wenn die Anwendung des Unionsrechts so
offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünfti-
gen Zweifel an der gestellten Frage besteht (CILFIT, s. o.).
Die Offenkundigkeit liegt vor, wenn alle übrigen Gerichte
der Mitgliedstaaten und der EuGH die gleiche Gewissheit
haben. Wie ist dies nun festzustellen?
Der EuGH gibt dem nationalen Richter folgende Leitlinien
- Alle Sprachfassungen müssen zum selben Ergebnis kom-
an die Hand:
- die besondere Terminologie des Unionsrechts muss
men,
- die Systematik und der Telos (Sinn) der Vorschrift des
beachtet werden und
Unionsrechts ist von dem nationalen Richter bei ihrer
Auslegung besonders zu beachten (CILFIT, s. o.).
Diese engen Ausnahmevoraussetzungen werden von einem Enge Ausnahmevorausset-
nationalen Richter wahrscheinlich nie erfüllt werden können, zungen
so dass die Ausnahme von der Vorlagepflicht eher theoreti-
scher Natur ist (vgl. aber BGH ZIP 2009, 2158 mit sehr knap-
- Bei Gültigkeitszweifeln besteht im Hauptverfahren aus-
per Begründung).
nahmslos die Vorlagepflicht.
Nach denselben Leitlinien gestaltet sich die obligatorische
Vorlagepflicht bei vorläufigen Rechtsschutzverfahren; das sind
solche Verfahren, in denen nur vorläufig unter Vermeidung
einer endgültigen Entscheidung ein Sachverhalt geregelt wird.
Diese Verfahren gibt es im Zivil- und im öffentlichen Recht,