Page 294 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          7.1  •  Grundgesetz und Europa


          Unionstreue begründete, Ausnahmen einschlägig sind. Gründe
          administrativer oder politischer Opportunität genügen nicht, da
          dadurch das Prinzip der Übertragung ausgehebelt werden könnte.
          Im vorliegenden Fall hat die Bundesregierung keinen Sonderfall
          geltend gemacht, sondern einfach an Stelle des Bundesrates ge-
          handelt; ein Sonderfall läge wohl auch nicht vor.
          IV. Berufung auf eine gesamtstaatliche Verantwortung
          Art. 23 VI 2 GG verhindert nicht die Übertragung als solche, viel-
          mehr hat der Ländervertreter bei Wahrnehmung der deutschen
          Mitgliedschaftsrechte auch auf die gesamtstaatliche Verantwor-
          tung zu achten. Ob dies der Fall gewesen ist, ist eine Frage der
          materiellen Prüfung.
          V. Zwischenergebnis
          Die Bundesregierung war für den Beschluss auf unionsrechtlicher
          Ebene unzuständig. Sie hat durch Nichtübertragung der Wahr-
          nehmung der Mitgliedschaftsrechte den Bundesrat in seinen
          Rechten aus Art. 23 VI GG verletzt.
          B. Verfahren
          Das Verfahren könnte aufgrund der Nichtberücksichtigung der
          ablehnenden Stellungnahme des Bundesrates bei der Willensbil-
          dung des Bundes fehlerhaft sein. Gemäß Art. 23 V 2 GG ist bei der
          Willensbildung des Bundes die Stellungnahme des Bundesrates
          maßgeblich zu berücksichtigen, wenn durch ein Regelungsvorha-
          ben der Europäischen Union im Schwerpunkt Gesetzgebungsbe-
          fugnisse der Länder betroffen sind.
          Wie oben bereits festgestellt wurde, betrifft die Richtlinie im
          Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder. Fraglich ist,
          ob die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates hier
          maßgeblich berücksichtigt hat.
          I. Maßgebliche Berücksichtigung
          Fraglich ist, was unter maßgeblicher Berücksichtigung zu verste-
          hen ist. Anerkanntermaßen bedeutet der Begriff, dass die Stel-
          lungnahme des BRates Vorrang vor der des BTages hat. Die nähe-
          ren Einzelheiten sind sehr umstritten.
          1. Letztentscheidungsrecht
          Nach einer Ansicht steht dem BR das verbindliche Letztentschei-
          dungsrecht zu. Dies überzeugt nicht, da die Meinung des BRates
          nur zu „berücksichtigen“ ist. Der Wortlaut impliziert, dass die Ver-
          antwortung bei der BReg. verbleibt und diese ihren politischen
          Handlungsspielraum, wenn auch eingeschränkt, behält.
          2. Bestimmung von Ziel und Richtung
          Nach h. M. bedeutet „maßgebliche Berücksichtigung“, dass die
          Auffassung des BRates Ziel und Richtung der deutschen Position
          bestimmt. Dem muss die BReg. fortlaufend Rechnung tragen, sei
          es bei den Verhandlungen im Rat, sei es bei ihrer Willensbildung.
          Bei Abweichung von der Position des BRates muss die BReg. den
          Ausgleich suchen und Rücksprache halten.
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