Page 290 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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7.1 • Grundgesetz und Europa
Sinne von Art. 23 I 1 GG. Gleiches gilt für die Wahrnehmung
sog. „Brückenklauseln“ und der Vertragsabrundungskompe-
tenz (Art. 352 AEUV). Durch die Erklärung Nr. 17 erkennt
Deutschland nicht den verfassungsrechtlich bedenklichen
unbedingten Geltungsvorrang an, sondern bestätigt nur die
bislang geltende Rechtslage.
Das Urteil ist insgesamt zu begrüßen, da es Rechtssicherheit Letztüberprüfungskompetenz
auf europäischer Ebene schafft. Es stellt klar, dass die EU kein für ausbrechende Rechtsakte
Staat, sondern nur staatsanalog ausgestaltet ist. Die Integrati-
onsfreundlichkeit des BVerfG und des GG äußert sich darin,
dass das Gericht problematische Klauseln des VvL nicht für
verfassungswidrig ansieht, sondern sie restriktiv verfassungs-
konform auslegt. Dies gilt insbesondere für die Erklärung
Nr. 17, die aus unionsrechtlicher, aber gerade nicht zwingend
aus verfassungsrechtlicher, Sicht den unbedingten Vorrang des
EU-Rechts vor den nationalen Verfassungen postuliert. Das
BVerfG behält sich zu Recht weiterhin die Letztüberprüfungs-
kompetenz für „ausbrechende Rechtsakte“, die nicht von den
EU-Kompetenzen gedeckt sind, vor. Hinsichtlich der oftmals
weiten Auslegung von Vorschriften des EUV/AEUV seitens des
EuGH ist die inzwischen gefestigte Rechtsprechung des BVerfG
ein notwendiger Pfeiler zur Korrektur von zu weit gehenden
Akten der EU, die zumindest begrifflich noch durch den Begriff
der Identitätskontrolle erweitert wurde, wodurch in den durch
Art. 79 III GG besonders geschützten staatlichen Kernbereich
eingreifende EU-Maßnahmen rechtswidrig sind.. Der statuierte
ausreichende Raum der MS zur eigenständigen politischen Ge-
staltung wurde ausdrücklich auf die zentralen Lebensbereiche
der Bürger (Wirtschaft, Kultur und Soziales) erstreckt.
Die Vorgaben des BVerfG wurden seitens des Gesetzge-
bers durch das IntVG umgesetzt. In den im Gesetz genannten
Bereichen (vereinfachtes und besonderes Vertragsänderungs-
verfahren, Brückenklauseln, Kompetenzerweiterungsklau-
seln, Flexibilitätsklauseln und dem Notbremsmechanismus)
gilt innerstaatlich der dort vorgesehene Mechanismus für die
Willensbildung der Bundesrepublik. Gleiches gilt für die Sub-
sidiaritätsrüge und die Subsidiaritätsklage, welche auf Antrag
von BTag oder BRat durch die BReg vor dem EuGH erhoben
wird. In allen vom IntVG erfassten Materien hat die BReg den
BTag und den BRat umfassend, zum frühestmöglichen Zeit-
punkt und fortlaufend zu informieren, § 13 IntVG.
In seinem sog. „OMT-Beschluss“ vom 21.6.2016 hat das
BVerfG die oben dargestellten Grundsätze der Identitäts- und
der ultra vires-Kontrolle noch einmal verdeutlicht. Das Ge-
richt prüfe im Rahmen der Identitätskontrolle, ob die durch
Art. 79 III GG besonders geschützten Rechtsgrundsätze bei
der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen