Page 291 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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286 Kapitel 7 • Vom Grundgesetz zum Europarecht
Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme einer Stelle der EU
berührt werden.
Im Rahmen der ultra vires-Kontrolle verwendet das BVerfG
2 einen anderen Prüfungsmaßstab. Akte der EU werden nur dar-
aufhin überprüft, ob sie vom in Art. 23 I GG enthaltenen Inte-
grationsprogramm gedeckt sind und am Anwendungsvorrang
des EU-Rechts teilhaben. Die Annahme eines ultra vires-Aktes
setze voraus, dass eine EU-Maßnahme offensichtlich außerhalb
der der EU übertragenen Kompetenzen liege.
Die Integrationsverantwortung verpflichtet die Ver-
fassungsorgane, sich dort schützend und fördernd vor die
grundgesetzlich geschützten Rechtspositionen des Einzelnen
zu stellen, wo dieser nicht selbst für Integrität sorgen kann,
d. h. die Einschränkungen der Rechte des Einzelnen durch das
Integrationsprogramm dürfen nicht weitergehen, als sie durch
7 die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU gerechtfertigt
sind. Eine Verletzung von Schutzpflichten liege aber erst dann
vor, wenn überhaupt keine Schutzvorkehrungen getroffen wer-
den, die getroffenen Maßnahmen offensichtlich ungeeignet
oder völlig unzulänglich sind oder wenn sie erheblich hinter
dem Schutzziel zurückbleiben.
Mithin müssen die deutschen Verfassungsorgane im Falle
offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüber-
schreitungen und sonstiger Verletzungen der Verfassungs-
2 identität durch die EU aktiv auf die Einhaltung des Integra-
tionsprogramms hinzuwirken haben. Sie sind gegebenenfalls
verpflichtet, auf die Aufhebung der vom Integrationsprogramm
2 nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie geeignete Vor-
kehrungen für die Begrenzung der innerstaatlichen Auswirkun-
2 gen der Maßnahme zu treffen. Vergleichbar den grundrechtli-
chen Schutzpflichten kann sich die Integrationsverantwortung
unter bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzun-
2 gen zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.
2 Ein Übungsfall Die EU-Kommission hat eine Richtlinie ausgearbeitet, nach der
Fernsehanstalten im EU-Gebiet pro Sendestunde nur noch sechs
2 Minuten Werbung senden dürfen. Bevor die Abstimmung über die
Richtlinie im Ministerrat der EU ansteht, wird der Richtlinienent-
wurf auch in der Bundesrepublik von staatlicher Seite diskutiert.
2 Die Bundesregierung hat ebenfalls über die Werbebeschränkung
beraten und ist damit einverstanden. Sie bittet anschließend den
2 Bundesrat um seine Stellungnahme. Der Bundesrat lehnt die
Richtlinie ab und meint im Übrigen, das Ganze sei sowieso Sache
2 der Bundesländer.
Die Bundesregierung nimmt die Stellungnahme des Bundesra-
tes in ihrer folgenden Sitzung zur Kenntnis. Ihre eigene Meinung
ändert sie aber nicht. Man beschließt, zur Ministerratssitzung in