Page 76 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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70 Kapitel 3 • Der Europarat und die EMRK
3.4 Ein Übungsfall
Als Hildegard Klaas (K) ihren PKW vor ihrer Haustür parkte und
2 ihrer minderjährigen Tochter Monika (M) aus dem Wagen helfen
wollte, wurde sie von zwei Polizeibeamten angesprochen. Die
3 Beamten forderten K auf, sich einem Alkoholtest zu unterziehen,
indem sie in einen Alkomat hineinblasen sollte. Als der Test auch
nach mehrmaligen Versuchen misslang, forderten die Polizisten K
auf, sie zu einer Blutabnahme zu einer Klinik zu begleiten. Bis zu
diesem Punkt besteht Einigkeit über den Sachverhalt. Danach,
so behauptet K, habe sie ihre Tochter bei einer Nachbarin unter-
bringen wollen. Dies aber hätten ihr die Polizisten verboten. Die
Beamten behaupten, K habe einen Fluchtversuch unternommen.
Unstrittig ist wiederum, dass K von den beiden Männern gepackt
wurde, ihr der Arm verdreht wurde, und sie mit dem Gesicht in
eine Fenstereinfassung schlug. K erlitt dabei Verletzungen. Später
wurde gegen sie eine Geldbuße wegen Lenkens eines Fahrzeugs
mit überhöhtem Blutalkoholgehalt verhängt. Eine Strafanzeige
gegen die Polizisten wegen Körperverletzung zog sie später
zurück. Ihre dienstliche Beschwerde beim Vorgesetzten der Po-
lizisten hatte keinen Erfolg. Im Schadensersatzprozess gegen die
Beamten und das Land unterlag K in allen Instanzen. Das BVerfG
bestätigte entgegen ihrer Verfassungsbeschwerde, dass ihre
Grundrechte nicht verletzt worden seien.
2 Nochmals: Die MrK wurde Im Verfahren vor der MrK machten K und M Verletzungen der
durch das ZP 11 aufgelöst und
Art. 3 und 8 EMRK geltend. Die (damals noch bestehende) MrK
mit dem EGMR verschmolzen. hielt bei K lediglich eine Verletzung des Art. 3 EMRK gegeben,
2 bei M ergab die Abstimmung nur eine Verletzung des Art. 8. Im
Übrigen lehnte sie die Beschwerde ab. Die Sache kam vor den
2 EGMR (EuGRZ 1994, 106).
Liegt eine Verletzung der Art. 3 und 8 EMRK bezüglich beider Be-
2 schwerdeführerinnen vor?
Es empfiehlt sich, bei dieser Fragestellung, die mehrere Komplexe
umfasst, sofort an die Gliederung der Prüfung zu denken. Erör-
2 tert werden müssen eventuelle Verletzungen der Rechte aus Art. 3
und 8 bezüglich K sowie bezüglich M.
2 a) K/Art. 3 EMRK. Fraglich ist, ob durch das Handeln der Polizis-
ten das Recht der K aus Art. 3 EMRK verletzt wurde. In Betracht
kommt hier eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung
2 durch die Polizisten. Es fragt sich, ob die Gewalt, die die Beamten
angewandt haben, notwendig war. Dies meint, ob der Umfang
2 der Gewaltanwendung im Verhältnis zum verfolgten Zweck ver-
hältnismäßig war.
2 An dieser Stelle kann man sich für oder gegen die Notwendigkeit
aussprechen, muss aber die Entscheidung jeweils gut begründen.
Der EGMR hat die Behandlung nicht für unverhältnismäßig ge-
halten, die MrK hingegen schon. Die MrK führte zur Begründung