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hatten dieses Wort noch nie gehört und bogen uns vor Lachen.

            1959 Die Trennung

            Dann wurde ich eingeschult und mein Leben nahm mit einem Schlag eine dramatische Wende. Bis
            zu diesem Zeitpunkt war ich täglich mit meinem Bruder zusammen. Er war eineinviertel Jahr jünger
            und wir verstanden uns blendend. Wir schliefen in einem Zimmer, standen zusammen auf und
            waren den ganzen Tag unzertrennlich. Das änderte sich, als ich eingeschult wurde.


            Meine Eltern beschlossen, dass es keinen Sinn machte, Ameischen nur auf Franz aufpassen zu
            lassen und fassten einen für mich katastrophalen Beschluss. Meine Großeltern wohnten in
            Nussbach, einem kleinen 35 km entfernten Ort. Dorthin wurde Franz am Sonntagabend gebracht
            und erst wieder am darauffolgenden Samstagnachmittag abgeholt. Das ging ein ganzes Jahr so, bis
            mein Bruder ebenfalls eingeschult wurde.


            Ich kann mich noch an den ersten Sonntagabend erinnern, als mein Bruder von meinem Vater zu
            den Großeltern gebracht wurde. Im Radio lief das Kriegslied „Ich hatt´ einen Kameraden, einen
            bessern gibt es nicht“, mein Bruder saß vor mir und wir beide haben fürchterlich geweint. Als er
            dann weg war, konnte ich mich nicht beruhigen und obwohl mir Mama mein Lieblingsessen
            servierte, weinte ich, bis ich eingeschlafen war. Das änderte sich auch bei den weiteren Abschieden
            nicht, aber umso schöner war es, wenn wir ihn wieder abholten. In den Sommerferien waren wir
            unzertrennlich und hatten viel Spaß zusammen.


            In den Ferien verbrachten Franz und ich immer zwei oder drei Wochen in Nussbach bei unseren
            Großeltern. Die hatten einen kleinen Bauernhof, den meine Großmutter alleine bewirtschaftete. Es
            gab zwei Kühe, ein Schwein und natürlich Hühner. Auch eine Katze gehörte zum Hof. Im Laufe der
            Jahre haben wir dort mehrere Generationen Katzen erlebt, sonderbarerweise hatten sie alle den
            gleichen Namen, sie hießen Minnie. Besonders interessant war es, wenn Minnie Junge hatte. Wir
            banden eine Schnur an unsere Stecken, an der wir eine kleine Papierkugel befestigten und spielten
            stundenlang Fangen mit den kleinen Kitten.

            Mein Großvater war ein brummiger Kauz, der in seinem Büro die Poststelle und eine kleine Bank
            betrieb. Er hatte im Krieg so einige schlimme Sachen erlebt, die ihn zu einem introvertierten
            Menschen gemacht hatten, so dass wir ihm, wenn möglich aus dem Weg gingen. Direkt neben
            seinem Büro hatte unsere Urgroßmutter ihr Schlafzimmer. Sie war schon ganz schön tüdelig und
            verwechselte ständig unsere Namen.


            Der Mittelpunkt des Hauses war die Küche. Ich erinnere mich noch gut daran, dass dort immer der
            Herd an und es im Winter mollig warm war. Es gab einen riesigen Tisch, an dem mehrere Personen
            Platz fanden. Am Kopfende saß Großvater, Großmutter direkt daneben und auf der anderen Seite
            Onkel Felix, der Bruder meines Vaters. Er war Schreiner und hatte seine Werkstatt unterhalb des
            etwas höher gelegenen Haupthauses. Im ersten Stock hatte er zwei Zimmer, die er aber nur zum
            Schlafen aufsuchte. Nach dem Mittagessen legte er sich in der Küche auf das in der Ecke stehende
            Sofa und hielt eine Stunde Mittagsschlaf. Dabei durfte er nicht gestört werden und wir mussten uns
            mucksmäuschenstill verhalten. Onkel Felix konnte Kinder nicht leiden und ließ uns das bei jeder
            Gelegenheit spüren. Uns machte das aber wenig aus, denn es gab genügend Gelegenheit, ihm aus
            dem Weg zu gehen.

            Unsere Großmutter war da ganz anders. Sie war immer für uns da, machte alles, damit wir uns
            wohlfühlten und wir liebten sie über alle Maßen. In der dortigen Tageszeitung gab es eine Rubrik
            für Kinder, die Bim und Bam hieß. Das waren zwei Bären, die alle möglichen Abenteuer erlebten.
            Großmutter schnitt das ganze Jahr diese Geschichten aus der Zeitung aus und las sie uns vor, wenn
            wir abends im Bett lagen. Wir hatten ein Schlafzimmer im ersten Stock mit einem Fenster, durch
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