Page 309 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstlieoretischen Voraussetzlingen des griech. Skepticismus,  297

      fortgerissen von der Anschauungsart dieser Männer  i).  Und trotzdem
      hält er hartnäckig an seinem Standpunkt fest. Wie ist dies bei dem
      hohen Grrad von Kütik, welcher diesem Skeptiker wie seinen Vor-
      gängern im Einzelnen eignet, zu verstehen?    Nur  so,  dass diese
      Männer die dunkle Ahnung gehabt haben mögen, dass ihr totaler
      Skepticismus einzig auf dem Boden eines totalen ReaHsmus erblühen
      könne.  Nun wäre es ja für einen Philosophen ein übler Grund, an
      gewissen Voraussetzungen nur darum festzuhalten, um zu bestimmten
      Ergebnissen gelangen zu können.  Einen Irrthum aufzugeben, wenn
      man ihn eingesehen, hat  seit  je  als  die Tugend des theoretischen
      Erkennens gegolten. Und in der That wäre das (man möchte sagen)
      krampfhafte Festhalten an den   naiv-reahstischen Voraussetzungen
      bei  einer  so  kritischen Richtung unverständHch, wären überhaupt
      theoretische und nicht in erster Linie praktische Motive die treiben-
      den in dieser Philosophie gewesen.  Die  ap)(Yj der Skepsis aber war
      das Bestreben, die Ataraxie,  die Apathie, und dadurch die Eudai-
      monie zu erlangen 2); und Mittel dazu war das philosophische Er-
      gebniss von einer derzeitigen Unmöglichkeit des Erkennens. Wo aber
      ethische Beweggründe, zumal in ethisch intensiv empfindenden Epochen
      oder Individuen die Führung des Philosophirens übernehmen, da er-
      scheint eine Trübung auch des scharfsinnigsten Verstandes auf be-
      stimmten Punkten nicht mehr wunderbar, mag derselbe nun einem
      antiken Skeptiker oder einem Kant, Schopenhauer, Nietzsche
      zu eigen sein.

         1) So erreicht, was die Vorstellung von den Eigenschaften der 'j-ox£tfA£va
      anlangt, Sextus die größte Entfernung von dem naiven Realismus dort, wo er
      die  skeptische Anschauung gegen  die Demokritische  abgrenzt; P.  I. 213
      heißt es über den verschiedenen Gebrauch des oj tjiäXXov bei Demokrit und der
                                                     Exeivot  [jlsv ^ap i~i toO
      Skepsis in Anwendung auf das bekannte Honigbeispiel :
      [jLT)0£Tepov  elvat Tarrouot  ttjv ^oovtjv,  Tj[i.eT5  he  itd toü  d^voeiv,  7:6-£pov  (i|j.cp6T£pa  tj
                       cpatvo[x£vrov (zumal auf die letztere Möglichkeit, welche zum
      ou5£T£p6v Ti loTi Ttüv
      kritischen Realismus hindrängt, wird sonst von Sextus nirgends Werth
      gelegt; am meisten noch in den S. 269 2; angezogenen Stellen).  Dass aber die siim-
      lichen "Wahrnehmungen auch nicht einmal die Existenz von Dingen an sich
      verbürgen, sondern rein subjective Empfindungen sein könnten und weiter nichts,
      diese Anschauung wird  als Möglichkeit erwogen bei der Erwähnung der An-
      sichten  >Einiger<  (unter denen in erster Linie  die Cyrenaiker und Demokrit
      zu verstehen sein dürften), welche allen objectiven Inhalt an der sinnlichen Wahr-
      nehmung leugneten, das xsvo-aÖEiv derselben behauptend.  (P. 11, 49.)
          2) P. I, 12.
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