Page 307 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech, Skepticismus.  295

         Wenn demnach Soxtus in der Ethik eben so wenig wie in der
      Erkenntnisstheorie dem Drängen der G-edankengänge nachgibt und
      weder die Eigenart des SittHchen fallen lassend, dasselbe auf individuelle
      oder sociale willkürliche Werthsetzung zurückführt  i)  noch die neuen
      Bahnen der Zukunft beschreitet,  so kann man eben nur in der Art
      der genannten Voraussetzungen die hemmenden Fesseln hierfür   er-
      bhcken.  Fragt man nun aber, warum diese Voraussetzungen für die
      pyrrhonische Skepsis  so bindend gewesen seien,  so genügt die Ant-
      wort, dass das gesammte Alterthum in ihnen befangen gewesen, nicht



         1) Dies scheint Aenesidem gethan zu haben; er löste das Gute und Schlechte
      in subjectiv-individuelle Bestimmungen auf und stellte das Gute als t6 atpoöv und
      ib^eXoüv, das Schlechte  als  tö l-vavTito? ijo-^ hin  (in bemerkenswerther Parallele
      zu den ästhetischen "Werthen); die Annahme  einer unabhängigen Existenz von
      Werthen wird eine xoivt)  TrpöXirjdit; genannt und alle Widersprüche in der Aussage
      über die sittlichen Werthe aus diesem Vorurtheil hergeleitet.  (Math. XI, 42—44.)
      Gibt diese Stelle die Anschauung Aenesidem's correct wieder (was der Text
      bei Photius Bibl. 212 zu bestätigen scheint), so kann von einem ethischen
      Skepticismus  (der doch immer auf  die vorläufige Erkenntnissunmöglichkeit
      der "Werthe gehen  müsste) hier nicht die Rede sein; wohl aber von
      einer Zurückführung der     sittlichen Werthurtheile  auf indivi-
      duelle Lust- und Unlustgefühle im Sinne der jüngeren Sophisten.
      Daraufhin wage  ich eiue Vermuthimg über  die Entwicklung der Voraus-
      setzungen des Pyrrhonismus , deren nähere Begründung aber die Grenzen dieser
      Studie überschreiten würde:  Die von den Begründern  des Pyrrhonismus  er-
      haltenen Fragmente geben über die Eigenart der erkenntnisstheoretischen Vor-
      aussetzungen  dieser Männer keine Aufschlüsse;  erst Aenesidem  lässt in den
      Tropen  die naiv-realistischen Voraussetzimgen für die sinnliche Wahmehmungs-
      theorie hindurchblicken, wie wir sie bei der Besprechung dieser Tropen entwickelt
      hatten: stillschweigende Annahme von an sich bestehenden Dingen mit Eigen-
      schaften, welche den sinnlichen Empfindungen wesensgleich  siad.  In der Ethik
      dagegen vertritt er auf Grund der obigen Angaben unter Wegfall der realistischen
      Voraussetzungen einen reinen Individualismus im Sinn der Sophisten, der freilich
      den Skepticismus in strenger Bedeutung ausschließt. Vom skeptischen Gesichts-
      punkt ausgehend führen dann die jüngeren Vertreter der Schule wie Sextus die
      realistischen Voraussetzungen auch für  die Ethik wieder  ein  (unter den ausein-
      andergesetzten Einschränkungen) und machen sich den Gegensatz von  uTtoxetji.eva
      und  cpatvofjieva, der für Aenesidem nur auf dem Gebiet der aloÖTj-a Geltung
      hatte, für die gesammte Philosophie zu Nutze.  Wie weit dies Einspannen in
      das Begrififspaar cpjaet  o^ — cpai>;6jj.evov bei Sextus geht und wie weit sich diese
      Methode dabei von ihrer ursprünglichen Bestimmung entfernt,  zeigt am deut-
      lichsten P.  I, 34, wo eine ausgesprochene Behauptimg sich selbst als noch
      nicht ausgesprochener, aber dem Sinn nach vorhandener wie das cpaiv6p.£vov zum
      cpuoet ov verhalten soll.
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