Page 306 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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294 Raoul ilichter.
in den Moralanscliauungeft , ja sie schreiten bis zur Leugnung dieser
Existenz gelegentlich fort. Aber nun machen sie Halt. Und doch
bieten sich drei Auffassungen von der Natur des Sittlichen, will
man die unabhängige Existenz sittlicher Werthe leugnen, von selber
dar: Entweder man hält gut und schlecht für willkürHche Werth-
setzungen des subjectiven, individuellen Beliebens, allenfalls einer Gle-
meinschaft von Subjecten, des Staats, der G-esellschaft; damit gibt
man das Wesen der Sittlichkeit als etwas Eigenartiges, von persön-
Hchen und gesetzlichen Bestimmungen verschiedenes auf. Oder aber
man kann versuchen, die Eigenart des Sittlichen vom Subject aus,
die Relativität der einzelnen Normen aus den verschiedenen Er-
scheinungsformen ein und desselben im Menschen befindHchen, sei es
als Gefühl, sei es als Vemunftstimme empfundenen allgemeingültigen
sittlichen Princips zu verstehen. Damit gibt man die Beschränkung
der sittlichen "Werthe auf die Sphäre des Subjects zu, ohne doch
die Anerkenntniss eines absoluten sittlichen Princips fallen zu lassen.
Und endhch kann man die sittHchen Werthurtheile unter Hinnahme
ihrer völligen Relativität als ein psychologisch eigenartiges Phänomen
zu begreifen suchen, ohne an einem obersten absoluten Moralprincip
festzuhalten. In allen drei Fällen wäre ersichtlich keine Veranlassung,
die grundsätzliche Unerkennbarkeit der sittHchen Werthe zu behaupten.
Wie nahe aber die Skepsis selbst die zweite und dritte Auffassung,
welche recht eigentlich erst eine Errungenschaft der neueren Moral-
philosopliie genannt werden kann, gestreift hat, zeigte die vernichtende
Analyse des Begriffs eines »an sich außer uns befindHchen Erstrebens-
werthen«!]. Und auch der ganze Skepticismus gegen die Wissen-
schaft fiele (bis auf die Polemik gegen die logischen Vernunft-
operationen) mit dem Aufgeben der naiv-realistischen Voraussetzungen
dahin. Denn die Wissenschaft hat es nach pyrrhonischer Auffassung
nur mit der Erforschung der Dinge an sich zu thun; die aÖTjXa,
Ixt6c u7:ox£i[X£va und ho^iiazixSx; CTrjTTjia sind ihr Wechselbegriffe 2).
Würde also mit den genannten Voraussetzungen die Unerkennbarkeit
dieser öiroxei'ixsva aufgehoben, weil alsdann solche in der von der
Skepsis angenommenen Art zu unberechtigten Begriffen herabsänken,
so hätte auch die Wissenschaft wieder freie Bahn für ihre Forschung.
1) Siehe oben S. 282 fif. 2) P. I, 13.