Page 306 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       in den Moralanscliauungeft  ,  ja sie schreiten bis zur Leugnung dieser
       Existenz gelegentlich  fort.  Aber nun machen  sie Halt.  Und doch
       bieten  sich  drei Auffassungen von  der Natur  des  Sittlichen,  will
       man die unabhängige Existenz sittlicher Werthe leugnen, von selber
       dar:  Entweder man hält gut und schlecht für willkürHche Werth-
       setzungen des subjectiven, individuellen Beliebens, allenfalls einer Gle-
       meinschaft von Subjecten, des Staats,  der G-esellschaft;  damit gibt
       man das Wesen der Sittlichkeit als etwas Eigenartiges, von persön-
       Hchen und gesetzlichen Bestimmungen verschiedenes auf.  Oder aber
       man kann versuchen,   die Eigenart des Sittlichen vom Subject aus,
       die Relativität der einzelnen Normen aus den verschiedenen Er-
       scheinungsformen ein und desselben im Menschen befindHchen,  sei es
       als Gefühl,  sei es als Vemunftstimme empfundenen allgemeingültigen
       sittlichen Princips zu verstehen.  Damit gibt man die Beschränkung
       der  sittlichen "Werthe auf  die Sphäre des Subjects zu, ohne doch
       die Anerkenntniss eines absoluten sittlichen Princips fallen zu lassen.
       Und endhch kann man die sittHchen Werthurtheile unter Hinnahme
       ihrer völligen Relativität als ein psychologisch eigenartiges Phänomen
       zu begreifen suchen, ohne an einem obersten absoluten Moralprincip
       festzuhalten. In allen drei Fällen wäre ersichtlich keine Veranlassung,
       die grundsätzliche Unerkennbarkeit der sittHchen Werthe zu behaupten.
       Wie nahe aber die Skepsis selbst  die zweite und dritte Auffassung,
       welche recht eigentlich erst eine Errungenschaft der neueren Moral-
       philosopliie genannt werden kann, gestreift hat, zeigte die vernichtende
       Analyse des Begriffs eines »an sich außer uns befindHchen Erstrebens-
       werthen«!].  Und auch der ganze Skepticismus gegen die Wissen-
       schaft  fiele  (bis  auf  die Polemik gegen  die  logischen Vernunft-
       operationen) mit dem Aufgeben der naiv-realistischen Voraussetzungen
       dahin. Denn die Wissenschaft hat es nach pyrrhonischer Auffassung
      nur mit der Erforschung der Dinge an sich zu thun;      die  aÖTjXa,
       Ixt6c  u7:ox£i[X£va und  ho^iiazixSx;  CTrjTTjia sind  ihr Wechselbegriffe 2).
      Würde also mit den genannten Voraussetzungen die Unerkennbarkeit
      dieser öiroxei'ixsva aufgehoben,  weil  alsdann  solche in  der von der
      Skepsis angenommenen Art zu unberechtigten Begriffen herabsänken,
      so hätte auch die Wissenschaft wieder freie Bahn für ihre Forschung.


          1) Siehe oben S. 282 fif.  2) P. I, 13.
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