Page 302 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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290                       Raoul Richter.
      zehn Tropen eingenommenen Standpunkt zeigt sich bereits darin, dass

      es  sich  bei der Zergliederung der sinnlichen Erkenntniss  stets um
      das Erkanntwerden oder Nichterkanntwerden sinnlicher Dinge,
      auf moralischem Gebiete aber stets um das Sein oder Nichtsein
      sittlicher Werthe  (wenigstens dem Ausdruck nach) handelt;  nicht
      darum,  ob  etwas gut oder schlecht     (wie der Honig süß oder
      bitter), sondern ob überhaupt Etwas gut oder schlecht heißen dürfe.
      Diese allgemeine Abschwächung in den Voraussetzungen beruht auf
      leicht zu durchschauenden Gründen.  Drei Gedankenreihen sind es
      wohl vorzugsweise, welche hier mitbestimmend gewirkt haben:   ein-
      mal Hegt  in Bezug auf die Welt, welche die sinnKche Erkenntniss
      bearbeitet,  die extrem  realistische Voraussetzung dem menschHchen
      Geist unendHch   viel näher  als  für  die  sittliche Welt.  Dass  die
      Dinge,  die wir im Raum sehen und tasten und an die sich alsbald
      die Qualitäten der übrigen Empfindungen heften, auch nach unserer
      Abwesenheit scheinbar unverändert und   als dieselben wieder ange-
      troffen werden, macht die Existenz von uns unabhängiger, mit be-
      stimmten Eigenschaften begabter körperlicher Dinge, der Ixtoc  utco-
      xeijxsva, für das in den Anfangsstadien der Reflexion befindliche Be-
      wusstsein zu einer geläufigen und einleuchtenden Annahme.  Ist diese
      Trennung in Object und Vorstellung,  in Ding an sich und Erschei-
      nung vollzogen, so liegt es nahe, bei der ursprünglich angenommenen
       Aehnlichkeit beider und unter Berücksichtigung der alltäglichen Er-
       fahrung einer scheinbaren Wirkung  der Körperwelt auf unser Be-
       wusstsein, die Vorstellungen und Erscheinungen aufzufassen als mehr
       oder minder getreue Spiegelbilder der Dinge, welche diese bewirken.
       Besinnt sich auf dieser  Stufe  der menschliche Geist und beginnt
       über den Grad der Treue    dieses  Spiegelbilds zu reflectiren,  ohne
       doch die genannten Voraussetzungen aufzugeben, so geräth er noth-
       wendig auf den Standpunkt des pyrrhonischen, in den zehn Tropen
       niedergelegten Skepticismus. Auf sittlichem Gebiete dagegen liegen
       die Verhältnisse nicht genau entsprechend.  Hier ist von vornherein
       das Reich der Werthe weit inniger mit dem menschlichen Geist ver-
       knüpft und neue Motive zu einer Spaltung in Werthobject und Werth-
       vorstellung, Werthding und Wertherscheinung, bieten sich nicht von
       selber dar; die erwähnten aber, welche den entsprechenden Vorgang
       bei der Ausdeutung der sinnlichen Erkenntniss bewirkten, haben hier
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