Page 300 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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288                       Raoul Richter.

       (adäquat oder inadäquat)  erfasst werden.  Alle diese Bestimmungen,
       die getrennten Voraussetzungen über die Existenz und die Passivität
       im Verhältniss von Werthgegenstand und Werthvorstellung, lassen
       sich auch in der ethischen Erscheinungslehre nachweisen.  Schon aus
       der  Terminologie  ist  dies  möglich.  Die  sittlichen Erscheinungen
       heißen cpatvojxsva.  Nun bedeutet cpaivdfxsvov bei Sextus einmal Er-
       scheinung im Gegensatz zum Ding an     sich, dem  uttoxsijxsvov, was
       erscheint, dann   aber auch   den  subjectiven Bewusstseinszustand,
       das, was mir scheint,  sich mir deutHch und unwiderstehlich auf-
       drängt, ohne dass eine Beziehung auf ein uttoxsiijlsvov gefordert würde;
       sein Gegensatz  ist das  ao-rjXov,  es  selbst gleichbedeutend mit dem
       TTpdSrjXov  oder dem  svapYs;!).  Sollte nun  aber auch  die  sittliche
       Erscheinung,  das ethische Phänomen, an  dieser zweideutigen Ter-
       minologie Antheil haben, so wären die damit durcheinanderlaufenden
       Voraussetzungen über Existenz und Nichtexistenz der Werthe an sich
       auch aus dem positiven Theil der Lehre erwiesen.  In der That wird
       diese Bedingung erfüllt.  Die sittlichen Phänomene sind die Werthe,
       wie sie in den Sitten, den Gebräuchen, den Gesetzen, den Vorschriften
       der Landesreligion, den Führungsweisen der Menschen zur Erscheinung
       gelangen 2). Und diese ihre Erscheinungsqualität wird bald als Spiege-
       lung an sich bestehender Werthe, bald bloß als unmittelbar sich auf-
       drängender Bewusstseinszustand gedeutet.  Das Erstere ist ganz un-
       zweifelhaft der Fall in Sätzen, welche, wie die folgenden, ausdrücklich
       das praktische 3) Kriterium behandeln wollen:  »Urtheilsmittel der
       skeptischen Führungsweise  also,  sagen  wir,  sei  das Erscheinende
       (cpaiv(5[x£vov),  .  .  . deshalb ist darüber, ob das Unterliegende (oTroxsifxevov)
       so oder so erscheint,  vielleicht Niemand im Zweifel; darüber  aber,
       ob  es  ist, wie  es erscheint,  zweifelt man.  Indem wir also an das
       Erscheinende uns halten, leben wir gemäß der Beobachtung des ge-
       wöhnlichen Lebens ansichtslos      «4],  Und in diese Beobachtung
       des Lebens werden dann    in  erster Linie  die Ueberlieferung  der
       Sitten,  der Gesetze, der Religion mit hineingezogen^).  Von einer
       andern Seite  erhellt diese Auffassungsweise aus der ausdrücklichen


          1) Vgl. oben S. 257 2).
          2) P.  1, 17, 24.   3) P. I. 21.     4) P. I, 22—23.
          5) P. I, 24.
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