Page 303 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Dir erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus.  291

     keine Kraft. Wird somit schon aus den genannten, für das wissen-
     schaftliche Bewusstsein  einer bestimmten Stufe allgemein  gültigen
     Gründen   verständlich, warum der ParalleHsmus in der Auffassung
     der sinnHchen und sittHchen Welt kein vollständiger sein konnte, so
     begreift  sich  dieser Umstand  noch  weit  einleuchtender  aus  den
     speciellen Interessen und Tendenzen — theoretischen wie prak-
     tischen —   der pyrrhonischen  Philosophie.  Theoretisch  sieht der
     Pyrrhonismus seine Aufgabe in dem Nachweis von der vorläufigen
     Unmöglichkeit  einer Erkenntniss der Wahrheit.  Für  die  sinnliche
     Erkenntniss störten nun die unkritisch realistischen Voraussetzungen
     diesen Nachweis nicht nur nicht, sondern erleichterten ihn geradezu.
     Denn fasste die Skepsis das Verhältniss von Ding und Vorstellung
     wie die Relation von objectivem Gegenstand zu subjectivem Spiegel-
     bild,  so brauchte  sie nur von der physischen  Seite auf den ver-
     schiedenen Bau der spiegelnden Organe, von der psychischen auf die
     verschiedenen Aussagen  derselben,  (ja desselben) über das gleiche
     Object hinweisen, um aus der Unmöglichkeit eines Kriteriums, das
     hier über adäquate und inadäquate Wiedergabe entschiede,  die Un-
     erkennbarkeit der Dinge zu  folgern.  In der sittHchen Erkenntniss
     lag  dies Vorgehen nicht  so nah.  Denn hier ließen sich keine be-
     sonderen Werthorgane aufweisen, deren Verschiedenheit im Bau sich
     die Skepsis hätte zu Nutze machen, auf deren widerspruchsvolle Aus-
     sagen  sie hätte Gewicht legen können.  Hier war  sie nur auf den
     Widerspruch in den Behauptungen des moralischen Bewusstseins der
     verschiedenen Menschen angewiesen, dessen principielle Unauflösbar-
     keit ohne Zurückführung auf nothwendig trübende Organe    (wie die
     Sinneswerkzeuge) nicht ohne weiteres auf der Hand lag.   So kam
     die Skepsis naturgemäß dazu, die realistischen Voraussetzungen hier
     nicht ganz so robust zu fassen; denn für den Nachweis für die Un-
     erkennbarkeit der Werthe leisteten sie ihr nicht den gleichen Dienst
     wie an anderer Stelle.  Aber an dieser Unerkennbarkeit der Werthe
     lag der Skepsis sehr viel und eigentiich Alles.  Das führt auf den
     dritten und letzten Grund, der mehr praktischer Natur  ist und die
     Accentverlegung in den immerhin bestehenden realistischen Voraus-
     setzungen im Gebiete der Moral erklärt.  Ließ sich nämlich die Un-
     erkennbarkeit der Werthe bei der starken Accentuirung des naiven
     Reahsmus nicht ganz überzeugend darthun, so stand für denjenigen,
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