Page 304 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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292                       Baoul Richter.

       dem an dieser Ueberzeugung sehr viel gelegen war,  ein Weg offen:
       die Unerkennbarkeit der Werthe sich zu sichern, indem man     die
       Existenz der Werthe bezweifelte oder leugnete.  Freilich hob dieser
       Schritt, wenn  er  bis zur Festsetzung der letzteren Möglichkeit ge-
       schah, eigentlich die ethische Skepsis auf; denn ein Bezweifeln oder
       der Nachweis der Unerkennbarkeit von etwas   als nicht seiend An-
       erkanntem ist, wenn man dabei stehen bleibt, absurd und führt im
       andern Falle über sich selbst hinaus.  So war der Schritt vom skep-
       tischen Standpunkt gefährHch, und wenn  er, wie wir sahen, auch nur
       unentschieden und zaghaft gethan und meist wieder zurückgenommen
       wurde,  so ist selbst dies bescheidene Vorgehen nur der Einwirkung
       ethischer Motive zu verdanken.    Die Ataraxie und Apathie,   für
       Cynismus, Stoa und Skepsis gleichmäßig Inhalt der Eudaimonie, dies
       ethische Ideal des Skeptikers und überdies das treibende Motiv  in
       seiner Lehre, es wird nur erreicht unter Verzicht auf die Erkenntniss
       der Lebenswerthe und Lebensgüter. Daher ist der theoretische Nach-
       weis  dieses Verzichtenmüssens ein so ungeheuer wichtiges Stück für
       den Skeptiker. Deshalb lässt er hier nach von den starren reahstischen
       Voraussetzungen,  auf denen sich sonst sein ganzes Gebäude erhebt;
                                                                      —
       ja er geht bis zur gelegentlichen Durchbrechung derselben vor und
       leugnet die Existenz absoluter,  realer, an sich bestehender Werthe.
       Ist doch die Erkenntniss, um die es sich hier handelt, für die Skepsis
       nicht nur richtig oder  falsch, sondern auch gut oder schlecht:
       »wenn das, was das Schlechte bewirkt, schlecht ist und fliehenswerth,
       der Glaube aber, die einen Dinge seien von Natur gut, andere aber
       schlecht, Beirrungen  verschafft,  so  ist  es auch  schlecht und
       fliehenswerth, vorauszusetzen und überzeugt zu sein, es gebe etwas
       Schlechtes oder Gutes, was seine Natur anlangt«  i).  So erklärt sich
       von  drei  Seiten  her  die Abschwächung und  gelegentliche Durch-
       brechung der realistischen Voraussetzungen innerhalb der skeptischen
       Ethik, und man wird es eher wunderbar finden, dass diese Schwen-
       kung nicht radicaler durchgeführt wurde, als dass sie überhaupt statt-
       gefunden hat.   Allerdings  bleibt dabei zu bedenken,  dass mit der
       völligen Aufhebung der naiv-realistischen Voraussetzungen auf ethischem
       Gebiet, wie auf  rein erkenntnisstheoretischem, auch die Aufhebung


           1) P. ni, 238.
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