Page 308 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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296 Eaoul Richter.
völlig. Zwar wird es immer als der schlagendste Beweis für die er-
kenntnisstheoretischen Grrenzen des Alterthums gelten können, dass
auch das Extrem der antiken Kritik, dass die Skepsis sich von diesen
Grenzen nicht zu befreien vermochte, aber es waren auch damals
bereits kräftige Ansätze gemacht worden, in Ethik und Erkenntniss-
theorie die einseitig realistischen Prämissen zu durchbrechen. Von
den drei Möglichkeiten, den Skepticismus gegen die sinnliche Er-
kenntniss zu überwinden, deren jede eine bestimmte Art der Auf-
hebung der naiv- realistischen Voraussetzungen bedeutete, waren die
beiden ersten bereits zur Zeit Pyrrho's angeschlagen worden. Die
Cyrenaiker hatten hier den extremen Idealismus vertreten und alle
Empfindungen als rein subjective Zustände (Tradyj) ohne Hinweis auf
an sich bestehende Objecte aufgefasst^). Demokrit hatte den grund-
sätzlichen Standpunkt des kritischen Realismus mit der Ansicht
verkündet, dass alle sinnlichen Qualitäten rein subjectiven, die mathe-
matisch-physikalischen Eigenschaften aber objectiven Bestand besäßen.
Ja selbst die Passivität des Subjects beim Zustandekommen der
sinnHchen Wahrnehmung, dieses ständige Element jedes extremen
ßeahsmus, war schon in dem erkenntnisstheoretischen Apergu eines
Protagoras und Empedokles von der »Gegenbewegung im Sub-
ject« durchbrochen worden. In der Ethik hatten die Sophisten die
Anschauung mit nicht misszuverstehender Deuthchkeit verbreitet, dass
subjectives Belieben des Einzelnen oder der Masse die sittlichen
"Werthe geschaffen habe. In welchem Grade diese Richtungen einem
Manne wie Sextus vertraut waren, welchen Einfluss Demokrit und
die Sophisten auf die Begründer des Skepticismus geübt haben, ist
bekannt. Auch ist es merkwürdig, wie Sextus, wo er auf die Er-
kenntnisslehre Demokrit' s oder der Cyrenaiker zu sprechen kommt,
gelegentHch eine extrem -idealistische oder kritisch -reaUstische Be-
merkung unterfließen lässt, gewissermaßen gegen seine Absicht, mit
1) Allerdings nicht ganz rein; wie Natorp (Archiv f. Gesch. d. Phü. III,
355 ff., 361) nachgewiesen hat. Auch nach den Berichten des Sextus lösen die
Cyrenaiker bald alle Existenz in subjective Bewusstseinszüsfände auf (oi re ««'^o
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TYjs xup-rjVTji: cptXöaocpoi [jiova cpaalv UTcöEp/ei^^ za TiaÖT), d'XXo oe oüSev. Math. VI, 53),
bald stellen sie die Natur der ü-oxeifjieva nur als unauffassbar hin (P. I, 215), indem
auch sie das Dasein von uTroxeifieva mit bestimmten Qualitäten annehmen; bald
wird von ihnen dieses Dasein weder bejaht noch verneint, sondern bezweifelt
(Math. Vn, 194).