Page 298 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       ogß                       ßaoul Richter.

      Passivität.   Das sittliche Ding und das  sinnliche Ding werden in
      dieser Beziehung völlig gleichwerthig behandelt.  Dieser Standpunkt,
      die Werthe an sich überhaupt zu leugnen oder    sie nur  als in der
      Welt der Objecte gelagerte Realitäten denken zu können, wurde der
      Grund dafür, dass die Skepsis bei allen möglichen und unmöglichen
      Dingen die Frage nach dem »an sich« des sittHchen Werthes  stellte.
      Ob Ohrringe zu tragen, sich zu tättowiren, dem Serapis  ein Ferkel
      zu opfern u.  s. w. an sich sittlich, gestattet, heihg wäre, wurde als
      Problem aufgeworfen  i).  Nur durch  die obige Voraussetzung wird
      diese Ausdehnung der Frage nach dem cpuoci    dyaötJv,  S^oiov u.  s. w.
      auf  die  einzelnen und  einzelsten Dinge  verständlich.  Dass  diese
      Passivitätstheorie auch in vollem Umfang für das Verhältniss zwischen
      Werth und WerthVorstellung Geltung     behält,  dafür  ist  nun an
      schlagenden Belegstellen kein Mangel.  Wiederholt wird gesagt, dass
      das an sich Gute oder Schlechte Alle in gleicher Weise bewegen 2)
      müsse, und wie man sich diese Bewegung dachte, darüber gibt das
      obige Gleichniss den Aufschluss.  Wollte man aber gerade auf das
      Gleichnissartige dieses Bildes hinweisen, um von der Skepsis wenigstens
      in der Ethik das Walten ganz bestimmter, auf dem Boden der Antike
      gewachsener Voraussetzungen   abzulehnen,  so kann man    sich  bei
      S ext US selber darüber eines Besseren belehren.  Dieser verschmäht
      nämlich nicht, unter ausdrückhchem Hinweis auf unser Gleichniss,
      die Nutzanwendung desselben auf das Verhältniss eines bestimmten
      Werthgegenstandes zu der entsprechenden Werthvorstellung zu machen.
      Die  betreffenden  Partien  sind  für  die halb unbewussten Voraus-
      setzungen dieser ethischen Skepsis zu bezeichnend,  als dass wir die
      wichtigsten Stellen aus ihnen nicht wörtlich hier aufnehmen sollten:
      »Wenn die Thorheit an sich ein Uebel  ist, so wird — wie das Warme
      als an  sich warm daran erkannt wird,  dass die, welche ihm nahe
      kommen, erwärmt werden, und das Kalte daran, dass sie kalt berührt
      werden — auch die Thorheit   als ein Uebel an  sich daran erkannt
      werden müssen, dass man von ihr übel berührt wird (sx tou xaxouo&ai)
      entweder nun werden die sogenannten Thoren übel berührt von der
      Thorheit,  oder  die Weisen.  Aber  die Weisen werden  nicht übel



          1) P. in, 198 ff.  Vgl. auch den Inhalt des X. Tropus I 145 ff.
          2) P. in, 179, 182, 190 u.  a. m.
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