Page 296 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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284 Raoul Eichter.
mäßig leicht gewesen wäre, von dem oben angeführten Gedanken aus
zum kritischen Realismus sich hindurchzuringen und auf diese Weise
den Skepticismus zu überwinden, so hätte in der Ethik die Analyse
des »Erstrebenswerthen«, in ihre Consequenzen weiter verfolgt, die
kritisch-realistische Auffassungsweise zeitigen können: absolute sitt-
liche Werthe können etwas Reales sein, ohne darum starre, vom
Menschen unabhängige Objecte sein zu brauchen; sie sind Willens-
ziele, welche, von principiell einheitlicher Natur, sich in den indi-
viduellen Aeußerungen sehr verschieden gestaltet darstellen. Denn
die Relativität der sittlichen Werthe im Einzelnen führt zum mora-
lischen Skepticismus nur nothwendig unter der starr-realistischen An-
nahme, die Werthe seien Objecte, die sich in der Auffassung der
Subjecte eben richtig oder falsch spiegeln müssten; das Einzige hier
für die Entscheidung zur Verfügung stehende Kriterium, nämlich die
Allgemeingültigkeit, lässt uns im Stich. Nimmt man aber an, dass
die Werthe in einem subjectiv-geistigen, formalen Princip wurzeln,
so sprechen die relativ-gültigen Werthsetzungen im Einzelnen weder
gegen dessen Existenz, noch gegen dessen Erkennbarkeit; denn sie
sind im stände, den absoluten Werth in sich aufzunehmen, und es be-
steht erkenntniss-theoretisch kein grundsätzliches Hinderniss mehr, das
absolut WerthvoUe in ihnen zu entdecken.
Aber die Skepsis ist weit davon entfernt, sich selbst aufzuheben
und den Schritt zu einer rein idealistischen (subjectivistischen) oder
gar kritisch-realistischen Moralphilosophie hin zu thun. Denn wie
auch ihre Voraussetzungen über das Dasein absoluter sittlicher
Werthe gewesen sein mögen, wie auch dieselben (in ihren einzelnen
Vertretern?) zwischen Annahme, Zweifel und Leugnen einer solchen
Existenz geschwankt haben mögen, die Hauptthese der skeptischen
Moralphilosophie, welche niemals geschwankt hat und welche sich
mit allen diesen Voraussetzungen verträgt: die grundsätzliche
Unerkennbarkeit der Werthe ^j, fußt völlig auf naiv-realistischen
1) Das gleiche Schwanken in der Annahme der Existenz absoluter Werthe
theilt die kurze Darstellung bei Diogenes ebenso mit derjenigen des Sextus, wie
die Behauptung der Unerkennbarkeit der Werthe an sich; letztere belegt XI, 101