Page 291 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus.  279

      in der Richtung der Beweise   »Einiger«,  dass nichts an  sich  gut,
      schlecht oder gleichgültig sei^).  Es wird also offen gelassen, ob die
      Skepsis sich rückhaltslos diesen Beweisen anschließt, und ebenso be-
      sagt der zweideutige Ausdruck,  »dass Nichts an sich gut ist«, wie
      schon oben bemerkt wurde, noch nicht, dass es auch nichts an sich
      Gutes gäbe.  Ganz im Einklang damit lautet das Thema der folgen-
      den Paragraphen in indirecter Fragestellung  et Ion  xi 96051 dYaUov
      xai xaxöv xat doia^opov, wobei das im weiteren Verlaufe stets bei-
      behaltene Tt besonders deutlich die Möglichkeit zweierlei Auffassungen
      von der Existenz der Werthe an sich an die Hand gibt 2). Nun wird
      die  angebliche Nichtexistenz  absoluter  sittlicher Werthe  aus dem
      Widerspmch in der Werthschätzung der »sogenannten Güter« (XeYojjLsva
      ÄYa^d) erschlossen und also nur der Kreis dieser »sogenannten« Güter
      aus der Sphäre der absoluten Werthe ausgeschieden.  Dieser Stand-
      punkt wird vorläufig gewahrt und die vorsichtige Zurückhaltung über
      die Existenz der Werthe an sich auch am Schluss des Beweisgangs
      nicht verlassen, wo es heißt: dass wir nicht fest zu versichern ver-
      mögen   »was das der Natur nach Gute     ist« ^).  Und  in gleichem
      Geiste fällt auch die Zusammenfassung der ethischen Untersuchungen
      in dem Satz aus, »dass die Existenz  (•j7r(JoTaaic) der guten, schlechten
      und unterschiedslosen Dinge nicht allgemein zugestanden wird  (6|io-


         1) Ebenda.
         2) Denn mit dem ti lässt sich die Frage sowohl übersetzen: ob es etwas an
      sich Gutes u. s. w. gibt,  als auch: ob etwas an sich gut u. s. w.  ist. Ohne den
      Zusatz  des  xt, den die griechische Sprache auszulassen  erlaubt, (der aber bei
      Sextus, soweit ich sehe, nur ein einziges Mal P. IH, 179 fehlt, bei Diog. IX, 101
      fehlt das ti in gleichen Zusammenhang zweimal), wäre für die negativ-dogmatische
      Auffassung von der Existenz der fraglichen "Werthe entschieden.  Allerdings kommt
      es auf die Stellung des  ti zu dem £3-1 einigermaßen an;  steht das ea-t vor dem
      Tt, so bedeutet es : ob es etwas an sich gutes gäbe, steht es dahinter, so neigt der
      Ausdruck dem Geist der griechischen Sprache gemäß mehr dem Sinne zu : ob etwas
      an sich gut sei. Beide Stellungen finden sich bei Sextus übrigens gelegentlich dicht
      aufeinander  (z. B. P. m, 190).  Die nämliche Doppelbedeutung (nur noch unent-
      scheidbarer)  trifft den Ausdruck:  oiioev  iori cpuost «Ya^ov, gleichfalls eine in den
      Schriften  des Sextus  stets wiederkehrende Redewendung.  Accentuelle Ver-
      schiedenheiten,  die sonst ausschlaggebend wären, können wegen der Unzuver-
      lässigkeit der Handschriften auf diesem Gebiete nicht zum Kriterium benutzt
      werden.  Den Inhalt dieser philologischen Bemerkungen verdanke ich der gütigen
      Auskunft von Herrn Geheimrath Gurt "Wachsmuth.
         3) P. m, 182.
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