Page 295 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus.  283

      faltigkeit der Empfindungen vielleiclit ausgelöst werden könnte ^j.  Der
      Gedankengang, um    den es sich handelt,  ist  kurz folgender: Zur
      Kritik steht die Grleichung »to aipexöv = t6 a-^aböv*; in Bezug auf
      dieses Verhältniss heißt es: »aber auch das Erstrebenswerthe ist nicht
      das Gute, denn dies ist entweder außer uns oder in uns; aber wenn
      außer uns, so bemrkt es entweder in uns eine artige Bewegung und
      ein annehmliches Verhalten und einen schätzbaren Zustand: oder es
      wirkt gar nicht auf uns ein.  Und wenn es nun nicht für uns schätz-
      bar ist (aYaoTov), so wird es weder ein Gut sein, noch     Wenn
      aber in uns von dem außerhalb Seienden   (diro tou  iy.i6c) irgend ein
      freundHches Verhalten und ein willkommener Zustand entsteht, so
     wird das außerhalb Seiende mit nichten um seiner selbst
     willen erstrebenswerth sein, sondern wegen der in uns bei
     ihm entstehenden Stimmung; so dass das um seiner selbst
      willen Erstrebenswerthe nicht außerhalb seinkann^),« Aber
                                                                    —
     auch nicht in uns; weder — so der Kern der weiteren Gedanken
     kann es in unserm Körper vorhanden sein (denn physische Zustände
     erfassen wir niemals, sondern nur psychische 3), noch in der Seele
     (denn diese  existirt vielleicht nicht 3) oder  ist ein Atomcomplex, in
     dem man   sich das Gute nicht vorhanden denken kann) 4); oder aber
     entscheidender und weniger sophistisch —  : was von  der einzelnen
     Seele  als gut empfunden wird,  ist immer individuell bestimmt und
     kann uns daher das an sich Erstrebenswerthe nicht enthüllen  s).  Es
     leuchtet ein,  dass die Skepsis an dieser Stelle, wo  sie das  ä-^aböv
     dem oLYao-dv gleichsetzt 6), wo  sie ausdrückhch die Möglichkeit eines
     unabhängig von uns bestehenden äußeren Guten leugnet, wo sie die
     sitthchen Werthe nur als auf den Willen des menschHchen Subjects
     bezogen für  sinnvoll  erklärt,  dass  sie sich hier am weitesten von
     jenem naiven Realismus entfernt zeigt, welcher im zehnten Tropus
     auch die sitthchen Werthe   in die begriffhche Antithese  der exxo;
     i)7cox£i[XEva und deren inadäquater cpavTaoi'at eingespannt hatte ^). Wie
     es innerhalb der Theorie der sinnhchen Wahrnehmung verhältniss-


         1) Siehe oben S. 268 f.
         2) P. ni, 184 (Uebersetzung nach Pappenheim) vgl. Math. XI, 83—86.
         3) Ebenda 185, Math. XI, 87.
         4) P. in, 186/87.    5) Math. XI, 89.      6) Math. XI, 85.
         7) Vgl. oben S. 276 f.
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