Page 297 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 297

Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus.  285

     Gedankenreilien.  Ein bestimmtes Etwas, das ist hier der Sinn aller
     Ausführungen, kann   als an sich gut oder schlecht nur dann fest-
     gestellt werden, wenn es Allen  in gleicher Weise gut oder schlecht
     erscheint.  Nun erfüllt keiner der geltenden Werthe diese Bedingung
     der allgemeinen Gültigkeit.  Also kann nichts  als an sich gut oder
     schlecht erkannt werden.  Und  in entscheidender Weise den naiven
     Realismus  der Voraussetzungen  enthüllend,  bringt  die Illustration
     der Prämisse einen höchst lehrreichen Vergleich;  dieser  findet sich
     in beiden Werken des Sextus im Centrum der moralphilosophischen
     Partien,  wo  die eigene Meinung     der Skeptiker zu  der moral-
     philosophischen  Grundfrage  dargestellt  wirdi):  »Wie nämlich  das
     Feuer an sich  (cpuast) eine wärmende Kraft besitzt und Alle wärmt
     und nicht Diese wärmt. Jene aber kühlt, und wie der Schnee kalt
     ist und nicht Einige kühlt. Andere wärmt, sondern Alle gleicher-
     maßen kühlt; so muss das an sich Gute für Alle gut sein und nicht
     für Diese gut,  für Jene nicht gut« 2).  Die Auffassung vom Wesen
     der SittHchkeit, welche diesen Vergleichen zu Grunde liegt,  ist  er-
     sichtlich die naiv-realistische: wenn es sittliche Werthe an sich gibt
     (die Frage nach ihrer Existenz geht uns hier nichts an), so sind die-
     selben zu denken nach Art von Objecten,    die mit bestimmten Be-
     schaffenheiten  begabt  dem  menschlichen  Subject  gegenüberstehen
     und ihr Wesen wie ihre Eigenschaften dem subjectiven Bewusstsein
     gewissermaßen aufprägen.   Zweierlei fällt an dieser Auffassung auf:
      die Objectivirung,   die Verdinglichung,  fast möchte man  sagen
      MateriaHsirung  der Werthe; und am    Subject,  das  diese Werthe
      erkennen  soll,  die Begleiterscheinung  jedes  naiven Realismus,  die


      aY^toaTov  o'jv to cpoaet äft^ös;  die Existenz der absoluten Werthe wird geleugnet
      in Sätzen wie:  o\i% dpi etci cp6cet d-^ablt^  tq xa-xöv (ebenda);  sie bleibt zweifelhaft:
      a^JTjpo'jv TÖ cpuoei ti eivat d^aSov  ri xarov (90); eine Stelle, an der sie ausdrücklich
      angenommen wird,  ist mir bei Diogenes nicht bekannt.
         1) P. in, 179, Math. XI, 69 S. (eingeführt als Quintessenz der eigenen Meinung
      der Skeptiker. Vgl. 68 Schluss),  Ebenso nimmt bei Diog. IX, 101 das Gleich-
      niss diese hervorragende Stelle ein.
         2) Math. IX, 69.  Das Gleichniss hinkt übrigens, wenn mau sich auf den
      skeptischen Standpunkt stellt, bedeutend: denn dass das Feuer an sich heiß, der
      Schnee an  sich kalt  ist, bezweifelt die Skepsis in  ihrer Theorie der sinnlichen
      Wahrnehmung ebenso (imd  z. Th. auf Gnmd davon), wie dass es  (er) Allen heiß
      (kalt) erscheint.  Das Beispiel ist aber auch platonischer Herkunft  (Sext. Emp.
      Op. ed. Fabricius, S. 780 Anmerkg.).
   292   293   294   295   296   297   298   299   300   301   302