Page 1019 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtundzwanzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                   Man muß auf die Handlungen der Bürger achtgeben, denn unter
                     einer tugendhaften Handlung verbirgt sich oft der Anfang der
                                                      Tyrannei.


                Als in Rom große Hungersnot herrschte 440 v. Chr. Vgl. Livius IV, 13 ff.
                und die öffentlichen Vorräte nicht hinreichten, um ihr abzuhelfen,
                entschloß sich ein gewisser Spurius Maelius, ein für jene Zeiten sehr

                reicher Mann, auf eigne Rechnung eine Menge Getreide anzuschaffen
                und das Volk damit auf seine Kosten zu ernähren. Durch diese Wohltat
                erwarb er sich solche Gunst beim Volke, daß der Senat angesichts der
                üblen Folgen, die diese Freigebigkeit haben konnte, das Übel zu
                unterdrücken beschloß, ehe es noch mehr Kraft gewann. Er ernannte also

                einen Diktator und ließ ihn hinrichten.
                     Hier ist zu bemerken, daß Handlungen, die tugendhaft scheinen und
                vernünftigerweise nicht zu verurteilen sind, oft in Gewalttätigkeit
                umschlagen und eine Republik in die größten Gefahren bringen, wenn
                ihnen nicht beizeiten gesteuert wird. Betrachten wir die Sache näher!
                Eine Republik kann ohne angesehene Bürger nicht bestehen noch
                irgendwie gut regiert werden. Andrerseits ist das Ansehen der Bürger die

                Quelle der Tyrannei in den Republiken. Will man die Sache gut
                einrichten, so muß man den Bürgern ein Ansehen einräumen, das der
                Stadt und der Freiheit nützt, nicht aber schadet. Eine angemessene, aber
                nicht übermäßige Freiheit der Bürger fordert auch Aristoteles, Politik,
                VIII, 7, 7. Man muß daher die Mittel untersuchen, durch die sie zu
                Ansehen gelangen. Das sind eigentlich zwei, öffentliche und private. Die

                öffentlichen Mittel sind, wenn jemand durch guten Rat oder noch bessere
                Taten für das Gemeinwohl Ansehen erlangt. Zu dieser Ehre muß man
                den Bürgern die Bahn öffnen und für den Rat und die Taten
                Belohnungen aussetzen, die ihnen Ruhm und Befriedigung verschaffen.
                Ist der auf diesem Wege erlangte Ruhm rein und natürlich, so wird er
                niemals gefährlich werden. Erlangt man ihn aber auf die zweite Art,
                durch Privatmittel, so ist er höchst gefährlich und durchaus schädlich.

                Privatmittel sind es, wenn man diesem oder jenem Bürger Wohltaten
                erweist, indem man ihm Geld leiht, seine Töchter ausstattet, ihn gegen





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