Page 1023 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Dreißigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Ein Bürger, der in einer Republik durch sein Ansehen etwas Gutes
ausrichten will, muß erst den Neid überwinden. – Wie man beim
Anrücken des Feindes die Verteidigung einer Stadt einzurichten hat.
Als der römische Senat erfuhr, daß in ganz Etrurien ein neues Heer
gegen Rom ausgehoben wurde und daß die Latiner und Herniker, bisher
Freunde des römischen Volkes, auf die Seite der Volsker, der Erbfeinde
Roms, getreten waren, sah er einen gefährlichen Krieg voraus. Da nun
Camillus Tribun mit konsularischer Gewalt war, glaubte er ohne
Ernennung eines Diktators auszukommen, wenn nur die andern
Tribunen, seine Amtsgenossen, ihm die Leitung des Krieges anvertrauen
wollten. Nec quicquam, sagt Livius, de maiestate sua detractum
credebant, quod maiestate eius concessissent. VI, 6 (386 v. Chr.)
(Sie glaubten ihrer Würde nichts zu vergeben, was sie seiner Würde
einräumten.) Camillus nahm also diese Unterordnung an und befahl, drei
Heere aufzustellen. Mit dem ersten wollte er selbst gegen die Etrusker
ziehen; das zweite unter Quintus Servilius sollte in der Nähe Roms
bleiben, um den Latinern und Hernikern entgegenzutreten, wenn sie sich
rührten, das dritte unter Lucius Quinctius sollte für alle Fälle die Stadt
decken und die Tore und die Kurie verteidigen. Schließlich befahl er, daß
Lucius Horatius, einer seiner Amtsgenossen, für Waffen und Getreide
und andre Kriegserfordernisse sorgen sollte, und dem Servius Cornelius,
ebenfalls einem Amtsgenossen, gab er den Vorsitz im Senat und im
öffentlichen Rat, um den Gang der täglichen Geschäfte zu leiten. In
dieser Weise waren damals die Tribunen bereit, zum Heil des
Vaterlandes zu befehlen und zu gehorchen.
Man ersieht daraus, wie ein guter und weiser Mann handelt, wieviel
Gutes er stiften und wieviel Nutzen er seinem Vaterlande bringen kann,
wenn er durch seine Tugend und Tüchtigkeit den Neid besiegt hat. Denn
dieser ist oft der Ausführung des Guten hinderlich, da er den Besten die
Gewalt vorenthält, die in wichtigen Dingen vonnöten ist. Dieser Neid
wird auf zweierlei Art besiegt. Erstens durch ein schweres, schlimmes
Ereignis, wo jeder, seinen Untergang vor Augen, allen Ehrgeiz beiseite
setzt und willig dem gehorcht, von dem er glaubt, daß er ihn durch seine
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