Page 372 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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nemlich habe Jener dieß nicht thun lassen. Jedem aber, welcher das Loos
                aufgehoben, sei hiemit klar gewesen, der wievielste er in der Reihe sei.
                Hernach aber hinwiederum habe Jener die Probebilder der Lebensweisen

                vor ihnen auf die Erde hingelegt, und zwar weit mehrere, als die
                Anwesenden waren, und es seien dieselben sehr mannigfaltig gewesen,
                nemlich sowohl Lebensweisen von Thieren, als auch sämmtliche der
                Menschen; denn sowohl Gewaltherrschaften seien unter denselben
                gewesen, die einen dauernde, andere inmitten zerstört und in Noth und
                Verbannung und Bettlerstand endigend, als auch Lebensweisen
                angesehener Männer, bei deren einigen der Grund des Ansehens in

                Gestalt und Schönheit und anderer Kraftäußerung und solchem Wetteifer
                beruhte, bei anderen aber in Geschlechtsadel und vortrefflichen
                Eigenschaften der Vorfahren, und auch wiederum Lebensweisen von
                Männern, welche in diesen nemlichen Beziehungen ohne Ansehen sind;
                ebenso aber auch von Frauen. Aber eine Rangordnung der Seele sei
                hierin nicht enthalten gewesen, weil es sich ja nothwendiger Weise schon

                so verhält, daß sie durch die Wahl eines anderen Lebens auch eine andere
                Beschaffenheit erhält. Die übrigen Verhältnisse aber seien sowohl unter
                sich, als auch mit Reichthum und Armuth, und die einen mit Krankheit,
                die anderen mit Gesundheit gemischt gewesen, andere aber inmitten
                zwischen diesen gestanden.
                     Und hier denn nun, mein lieber Glaukon, besteht alle Gefahr für
                einen Menschen, und deswegen müssen wir am meisten Sorge tragen,

                daß jeder von uns die übrigen Unterrichtsgegenstände vernachlässige
                und nur ein Nachforscher und Schüler dieses einzigen
                Unterrichtsgegenstandes werde, falls er nemlich irgendwoher im Stande
                ist, zu lernen und ausfindig zu machen, wer ihm die Fähigkeit und das
                Wissen verleihen könne, um eine gute und eine schlechte Lebensweise
                zu unterscheiden und nach Kräften stets überall die bessere zu wählen,

                indem er all dasjenige wohl erwägt, was jetzt gesagt und gegenseitig
                zusammengestellt und unterschiedlich auseinander gehalten wurde
                bezüglich des Verhältnisses zur Vortrefflichkeit der Lebensweise, und um
                ein Wissen davon zu haben, was die Schönheit, mit Armuth oder mit
                Reichthum vermischt, und mit welcher Seelen-Beschaffenheit verbunden
                sie Gutes oder Schlechtes erzeuge, und ebenso was hohe und niedere
                Geburt und zurückgezogenes Leben und Ausübung einer Herrschaft und

                Kraft und Schwäche und Reichthum an Kenntnissen und Unwissenheit
                und all das derartige, was der Seele durch natürliche Begabung anhaftet
                und von Außen dazu erworben wird, was denn dieß Alles durch seine
                gegenseitige Mischung zur Folge habe, so daß er aus all diesem einen





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