Page 445 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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jeder Strafe provociren dürfe, sprechen die zwölf Tafeln in mehreren

                Gesetzen aus;     299  auch spricht schon die historische Angabe, daß die
                zehen Männer, die die Gesetze verfaßten, bei ihrer Wahl die
                Begünstigung erhielten, daß man von ihnen nicht provociren dürfe,
                hinlänglich für den Satz, daß alle übrigen Staatsbeamten diese
                Begünstigung nicht hatten: überdieß enthält das consularische Gesetz des

                L. Valerius Potitus und M. Horatius Barbatus,           300  die der Eintracht
                wegen eine weise Volksthümlichkeit ausübten, die unverbrüchliche
                Bestimmung, daß kein Beamter gewählt werden sollte, von dem keine

                Provocation stattfände.      301  Auch enthalten die Porcischen Gesetze, deren
                drei sind, von drei Porciern vorgeschlagen,          302  bekanntlich nichts Neues,
                außer die feierliche Bestätigung [jenes Gesetzes]. Es ließ demnach
                Publicola, nachdem jenes Gesetz über die Provocation durchgegangen

                war, gleich die Beile aus den Gewaltstabbündeln [Fascen]
                herausnehmen, wählte sich dann den Tag darauf den Spurius Lucretius
                zum Amtsgenossen, und ließ seine Lictoren zu ihm, weil er der Aeltere
                war, hinübertreten: auch war er der Erste,         303  der die Sitte einführte, daß

                die Lictoren immer nur vor Einem Consul einen Monat um den andern
                hergehen sollten, damit es nicht zur Zeit der Volksfreiheit mehr Zeichen
                der Oberherrlichkeit gebe, als zur Zeit des Königthums gewesen wären.
                Nach meiner Ueberzeugung zeigte der Mann keinen geringen Grad von
                Staatsweisheit, indem er dadurch, daß er dem Volke in den gehörigen
                Schranken Freiheit gewährte, desto leichter das Ansehen der
                Staatsoberhäupter aufrecht erhielt. Nicht ohne Grund aber trage ich euch

                diese so uralten und so veralteten Dinge vor; sondern ich brauche
                ausgezeichnete Personen und Zeitpunkte als Beispiele für die Menschen
                und Ereignisse, auf welche ich dann im weitern Verlauf meiner Rede zu
                kommen gedenke.
                     32. In diesem Zustande hatte also der Senat den Staat in jenen Zeiten

                in Händen; so daß bei hergestellter Volksfreiheit dennoch nur Weniges
                durch das Volk vollzogen wurde, das Meiste dagegen durch das Ansehen
                des Senats, und dem Herkommen und der Sitte gemäß: und daß die
                Consuln der Zeit nach nur eine einjährige Macht besaßen, dem Wesen
                aber und dem Rechte nach eine königliche.            304  Ein Punkt aber, der zur

                Aufrechterhaltung der Macht der Vornehmen von der höchsten
                Wichtigkeit war, wurde mit der größten Strenge behauptet, nämlich daß
                die Beschlüsse der Volksversammlungen nur dann Gültigkeit hatten,

                wenn sie durch die Zustimmung der Väter gebilligt waren.               305  In
                dieselben Zeiten fällt auch die Ernennung des [ersten] Dictators




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