Page 612 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 612

Dienstbarkeit hat, und das nur deswegen, weil er zufällig einen größeren
                Haufen gemünzten Goldes besitzt. Wenn dieses durch einen
                Glücksumschwung oder einen Gesetzeskniff (der nicht minder als das

                Gesetz selbst das Unterste zu oberst kehren kann) von jenem Herrn und
                Besitzer auf den erbärmlichsten Taugenichts seines Hausgesindes
                übertragen würde, so würde der Herr alsbald in die Knechtschaft seines
                Dieners kommen, als ob er nur ein Anhängsel und eine Zugabe zum
                Gelde sei.
                     Noch viel mehr wundern sie sich über die Unvernunft Derjenigen,
                und lassen ihr die gebührende Verachtung angedeihen, die den Reichen,

                deren Schuldner sie weder, noch denen sie sonst irgendwie verpflichtet
                sind, fast göttliche Ehren erweisen, aus keinem anderen Grunde, als weil
                sie reich sind, und trotzdem, daß sie sie als so filzig und habsüchtig
                kennen, um zu wissen, daß ihnen bei Lebzeiten dieser Reichen nie auch
                nur ein einziger Denar von denselben zukommen wird.
                     Diese und ähnliche Ansichten haben sie theilweise aus ihrer

                Erziehung geschöpft, indem sie in einem Staate aufgezogen sind, dessen
                Einrichtungen von ähnlichen Thorheiten weit entfernt sind, theilweise
                aus der Litteratur und aus den Wissenschaften.
                     Denn wenn auch nur Wenige in jeder Stadt sind, die, von den
                anderen Arbeiten befreit, ausschließlich für die Wissenschaften bestimmt
                sind, diejenigen nämlich, bei denen von Kindheit auf eine
                ausgezeichnete Begabung, ein glänzender Verstand und ein

                wissenschaftlich veranlagter Geist bemerkt worden ist, so wird doch
                allen Knaben eine wissenschaftliche Grundlage gegeben und der größere
                Theil des Volkes, sowohl Männer als Frauen, widmen ihr ganzes Leben
                lang alle arbeitsfreien Stunden, wie schon gesagt worden, den
                Wissenschaften.
                     Die einzelnen Wissenschaften, lernen sie in ihrer Sprache. Diese ist

                wortreich genug, dem Ohr von angenehmem Klang und zum klaren
                Ausdrucke der Gedanken vortrefflich geeignet. Sie ist über einen großen
                Theil jenes Erdkreises verbreitet, nur daß sie hier reiner, dort verderbter
                gesprochen wird.
                     Von allen den Philosophen, deren Namen in unseren bekannten
                Erdtheilen berühmt sind, hat sie vor unserer Ankunft nicht einmal ein
                ruhmvolles Gerücht erreicht gehabt, und doch haben sie in Musik,

                Dialektik, Arithmetik und Geometrie dieselben Erfindungen gemacht,
                wie wir in alten Zeiten.
                     Wenn sie aber den Alten fast in allen Dingen gleichkommen, so
                stehen sie in der Dialektik den Erfindungen der Neueren weit nach. Denn





                                                          611
   607   608   609   610   611   612   613   614   615   616   617