Page 615 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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der natürlichen Geselligkeit zufolge, zu gleichem Zwecke behilflich zu
                sein.
                     Denn es gibt wohl kaum einen so finstern und unbeugsam starren

                Anhänger der Tugend und Hasser des Vergnügens, der die auch noch so
                sehr harte Arbeit, Nachtwachen und schmutzige Kasteiung empföhle, das
                er dir nicht zugleich auch auftrüge, den Mangel und das Ungemach
                deiner Mitmenschen zu lindern, so viel das in Deiner Macht steht, sowie
                daß er eine solche Handlungsweise nicht für etwas im Namen der
                Menschheit zu Preisendes hielte, nämlich, daß der Mensch dem
                Menschen Gesundheit verschaffe und Trost spende, weil er es für die

                menschlichste aller Tugenden ansieht, die Beschwerden Anderer so viel
                nur immer möglich zu erleichtern, den Kummer zu tilgen und das Leben
                der Freude, das heißt also dem Vergnügen wiederzugeben.
                     Warum sollte er, wozu die Natur ihn gegen Andere anspornt, nicht
                auch sich selbst vergönnen? Denn entweder ist ein angenehmes Leben,
                d.h. ein vergnügungsvolles ein moralisch schlechtes, und wenn es das ist,

                darfst du Keinem dazu verhelfen wollen, sondern man muß sogar soviel
                als möglich dafür sorgen, daß es, als etwas Schädliches und
                Verderbliches, den Leuten entzogen werde, oder es ist etwas Gutes und
                das darf man nicht nur Andern, sondern soll es ihnen sogar verschaffen –
                – warum also nicht auch in erster Linie sich selbst?
                     Es ist doch nicht gesagt, daß du dein eigenes Wohl weniger im Auge
                haben sollst, als das der Andern. Denn wenn die Natur selbst uns auch

                mahnt und drängt, gegen Andere gut zu sein, so befiehlt sie dir
                andererseits doch auch nicht, gegen dich selbst rauh und barbarisch
                streng zu verfahren.
                     Ein angenehmes, fröhliches Leben, d.h. also Vergnügen, hat uns,
                nach ihrer Behauptung, die Natur somit selbst, gleichsam als den
                Endzweck aller Handlungen, vorgezeichnet, und nach den Vorschriften

                der Natur leben, nennen sie Tugend. Wie aber die Natur alle Menschen
                zur gegenseitigen Unterstützung und Hilfeleistung im Genusse eines
                heiteren Lebens einladet (und das thut sie sehr mit Recht, denn so hoch
                steht Keiner über dem allgemeinen Menschenloose, daß sie nur für ihn
                allein sorgte, sie, die Alle gleichmäßig wärmt und durch das gemeinsame
                Band derselben Gestalt umfaßt), so befiehlt sie dir doch nicht, deinen
                Vortheil und eigenen Nutzen in einer Weise zu suchen, daß du Andern

                Schaden und Ungemach bereitest.
                     Darum sind sie der Ansicht, daß man nicht nur die unter
                Privatpersonen eingegangenen Verträge, sondern auch die öffentlichen
                Staatsgestze halten und beobachten müsse, die entweder ein guter Fürst





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