Page 647 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Von den Religionen der Utopier.



                                                  Inhaltsverzeichnis




                Die Religionen sind nicht nur in allen Theilen der Insel, sondern auch in
                den einzelnen Städten verschieden, indem in der einen die Sonne, in
                einer andern der Mond und in wieder einer andern überall ein anderer
                Planet göttlich verehrt wird.

                     Es gibt Leute, die irgend einen Menschen, der einst durch Tugend
                oder Ruhm glänzend hervorgeragt hat, nicht nur für einen Gott, sondern
                für den höchsten Gott überhaupt halten.
                     Aber der weitaus größte und vernünftigste Theil nimmt nichts von all
                dem, sondern ein göttliches, unbekanntes, ewiges, unendliches,
                unbegreifliches Wesen an, das über die Fassungskraft des menschlichen

                Geistes geht und durch das ganze Weltall ergossen ist, nicht durch
                materielle Größe und Masse, sondern durch seine innewohnende Kraft.
                Dieses nennen sie Vater, ihm allein schreiben sie den Beginn, das
                Wachsthum, den Fortschritt, die Verwandlungen und das Ende aller
                Dinge zu und keinem sonst erweisen sie göttliche Ehren.
                     Aber darin kommen doch alle überein, so Verschiedenerlei sie auch
                glauben mögen, daß sie nämlich ein höchstes Wesen annehmen, das

                zugleich als Schöpfer und Vorsehung des Ganzen anzusprechen sei;
                dieses nennen sie alle gemeinschaftlich in ihrer vaterländischen Sprache
                Mythras, nur darin gehen sie in ihren Ansichten auseinander, daß Jeder
                etwas Anderes für »Mythras« hält.
                     Aber doch meint Jeder, Dasjenige, es sei, was es wolle, was er für

                das höchste Sein hält, sei dieselbe Natur, deren göttliche Urkraft und
                Majestät nach der Uebereinstimmung aller Völker die oberste Leitung
                alles Geschehens zugeschrieben wird.
                     Uebrigens schwindet die Verschiedenartigkeit abergläubischer
                Religionsformen unter ihnen mehr und mehr, und jene eine Religion
                schlingt ein sie zusammenschweißendes Band um sie, die alle übrigen an
                Vernunft zu übertreffen scheint. Kein Zweifel, daß die übrigen
                Religionen schon früher verschwunden wären, wenn nicht jedes

                unheilvolle Ereigniß, das Einem widerfahren, während er sich mit dem
                Gedanken getragen, seine Religion zu ändern, anstatt dem Zufalle
                zugeschrieben zu werden, von der Furcht als eine vom Himmel gesandte
                Strafe einer Gottheit aufgefaßt worden wäre, womit sie das frevle
                Beginnen, daß ihr Kultus aufgegeben worden, rächen wolle.





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