Page 650 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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hoch und theuer verboten, daß jemand so tief unter die Würde der
menschlichen Natur sinke, daß er des Glaubens sei, die Seele sterbe
zugleich mit dem Leibe, oder die Welt werde nur so von ungefähr, ohne
höhere Vorsehung, im Getriebe erhalten.
Und so glauben sie denn, daß die Laster nach diesem Leben bestraft
werden, für die Tugend aber Belohnungen ausgesetzt sind; den, der das
Gegentheil glaubt, erachten sie gar nicht für ein menschliches Wesen, als
Einen, der die erhabene Natur seiner Seele bis zur Stufe eines bloß
thierischen Körpers erniedrigt hat, und sie versagen ihm noch mehr Rang
und Stellung eines Bürgers unter ihnen, deren Einrichtungen und
Gebräuche er (wenn ihm die Furcht darin nicht Schranken setzte) nur
»wie Luft« behandeln würde. Denn wem kann ein Zweifel darüber
bleiben, daß ein Solcher die öffentlichen vaterländischen Gesetze
entweder hinterlistig heimlich umgehen, oder sie gewaltsam übertreten
wird, da er nur seinen persönlichen Lüsten dient, wenn er über die
Gesetze hinaus nichts fürchtet und keine Hoffnung weiter hegt, als für
seinen Körper.
Einem so Gesinnten wird daher keinerlei Ehre erwiesen, kein
obrigkeitlicher Posten übertragen, er kann keinem öffentlichen Amte
vorstehen. Er wird überall, wegen seiner trägen, unnützen Natur
verachtet. Gleichwohl belegen sie ihn nicht mit Strafe, weil sie der
Ueberzeugung sind, daß Keiner es in seiner Macht und Willkür habe,
einen beliebigen glauben zu bekennen; aber ebensowenig zwingen sie
ihn, seine Gesinnung zu verstellen und zu heucheln, denn von Lüge und
Verstellung wollen sie nichts wissen, diese sind vielmehr, als dem
Betruge schon sehr nahe kommend, bei ihnen streng verpönt. Doch ist
ihm verboten, sich in Erörterungen über seine abweichenden Ansichten
einzulassen, wenigstens vor dem gemeinen Volke. Aber vor den
Priestern und ernsten gesetzten Männern das zu thun, dazu werden sie im
Gegentheil sogar ermahnt, indem man sich dem Vertrauen hingibt, ihr
Wahnwitz werde doch endlich der Vernunft weichen.
Es gibt auch Solche, und deren gar nicht wenige, die man
ungehindert gewähren läßt, die nicht gänzlich der Vernunft entbehren
und die nicht schlecht sind, die vielmehr in den entgegengesetzten Fehler
verfallen und auch die Seele der Thiere für ewig halten. Aber sie seien
doch mit den unsrigen an Würde nicht zu vergleichen und nicht zu dem
gleichen Grade von Glück geboren, denn sie glauben fast insgesammt
mit vollendeter Sicherheit, das Glück der Menschen in jenem Leben
werde ein so überschwängliches sein, daß sie zwar Jedermanns
Krankheit, aber Niemands Tod beweinen, außer den Derjenigen, die sie
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