Page 652 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Vogelflug-Wahrsagungen und alle die anderen abergläubischen
                Wahrsagereien, wie sie bei anderen Völkern hoch im Schwange sind,
                betreiben sie ganz und gar nicht und verlachen sie nur.

                     Wunder dagegen, die gegen den Lauf der Natur erfolgen und ihn
                durchkreuzen, halten sie als Beweise und Zeugen der wirkenden Macht
                der Gottheit in Ehren. Solche sollen dort zu Lande häufig vorkommen
                und in wichtigen und zweifelhaften Angelegenheiten flehen sie mit
                großer Zuversicht durch öffentliche Fürbitte um solche und erlangen sie
                auch.
                     Sie halten die Betrachtung der Natur und Lob und Preis derselben,

                die sich daraus ergeben, für einen Gott wohlgefälligen Kult; doch gibt es
                auch Solche, und ihrer gar nicht Wenige, die sich so ganz in der Religion
                leiten lassen, daß sie die Wissenschaften vernachlässigen und die
                Erkenntniß der Dinge hintansetzen; doch dem Müssiggange sind sie
                nicht ergeben, sondern sie glauben die Seligkeit im Jenseits nur durch
                rege Tätigkeit und gute Werke zu verdienen.

                     Daher pflegen die Einen die Kranken, die Andern bessern Wege und
                Straßen aus, Jene säubern Gräben, repariren Brücken, stechen Rasen,
                graben und schaufeln Sand und Steine aus, fällen, spalten und zersägen
                Bäume, transportiren auf Karren Holtz Getreide und Anderes nach den
                Städten, und nicht blos für Zwecke des Gemeinwesens, sondern sie
                geben sich auch für Privatleute zu Dienern her, ja sind unterwürfiger als
                die Sklaven, denn alle harte, schwierige und schmutzige Arbeit, wovon

                die Andern durch Arbeitsscheu, Ekel, Verzagtheit zurückgeschreckt
                werden, übernehmen sie freiwillig und heitern Sinnes, wodurch sie
                Andern behagliche Muße ermöglichen, während sie selbst nichts als
                Arbeit und Plage haben, die sie nicht in Rechnung Stellen; sie haben
                auch kein schmähendes Wort für die Andern wegen ihrer anders
                gearteten Lebensführung und überheben sich selber nicht.

                     Aber je mehr sie sich wie Sklaven gehaben, desto höher stehen sie
                nur bei Allen in Ansehen und Ehren.
                     Es sind ihrer aber zwei Secten. Die eine ist die der Unverheiratheten,
                die sich nicht nur des fleischlichen Umgangs mit dem andern
                Geschlechte völlig enthält, sondern auch des Genusses von
                Fleischspeisen und Einige sogar des Fleisches aller Thiergattungen. Sie
                verwesen alle Vergnügungen des irdischen Lebens als schädliche Dinge,

                und trachten nur nach den Freuden des künftigen die sie durch
                Nachtwachen und vergossenen Schweiß zu verdienen hoffen; sie sind
                alle die Zeit über wohlgemuth und rüstig.







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