Page 651 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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ungern und angsterfüllt aus dem Leben scheiden sehen. Denn das halten
sie für ein höchst übles Anzeichen, als ob dessen Seele aller Hoffnung
bar sei und ein schlechtes Gewissen habe und als ob sie in dunkler
Ahnung vor der bevorstehenden Strafe sich fürchte, das Leben zu
verlassen. Ueberdies werde der, meinen sie, Gott keineswegs
willkommen sein, der, wenn er gerufen wird, sich nicht freudig zu ihm
drängt, sondern nur unwillig und widerstrebend in seine Nähe gezogen
wird.
Ein derartiger Tod hat für die Zuschauer etwas Grauenhaftes;
trauernd und schweigend tragen sie einen so Gestorbenen hinaus und,
nachdem sie gebetet, daß Gott seiner abgeschiedenen Seele gnädig sein
und ihr ihre Sünden verzeihen möge, verscharren sie den Leichnam unter
die Erde. Diejenigen dagegen, die frohgemuth und hoffnungsvoll
dahingegangen sind, betrauert Niemand; mit Gesang begleiten sie sie auf
ihrem letzten Wege, empfehlen deren Seele liebevoll in Gottes Hut,
verbrennen die Leiber ehrfurchtsvoll, doch nicht schmerzlich bewegt,
und errichten dem Todten eine Gedenksäule an Ort und Stelle, auf die
seine Titel eingemeißelt worden sind. Und wenn sie nach der Bestattung
heimgekehrt sind, so bilden Leben und Charakter des Verewigten den
Gegenstand ihres Gesprächs, wobei sie keinen Abschnitt seines Lebens
lieber und öfter behandeln, als seinen schönen, seligen Tod.
Diese Feier zum Gedächtniß ihrer Rechtschaffenheit halten sie für
einen höchst wirksamen Anreiz zur Tugend bei den Lebenden, sowie für
eine den Todten höchst angenehme Huldigung, von denen man annimmt,
daß sie den Besprächen über sie beiwohnen, wenn auch (für das blöde
Gesicht der Sterblichen) unsichtbar.
Denn es wäre ja etwas dem Loose der Seligen Unangemessenes,
wenn es ihnen nicht frei stände, überallhin zu wandern, wohin sie
wollen, und es wäre undankbar von ihnen, wenn sie mit dem Leben
zugleich der Sehnsucht ledig geworden wären, ihre Freunde wieder zu
sehen, mit denen sie bei Lebzeiten durch gegenseitige Liebe und
Sympathie verbunden waren, welche doch nach ihrer Auffassung, wie
alle übrigen guten Eigenschaften guter Menschen, nach dem Tode nur
zunehmen können, anstatt abzunehmen. Darum glauben sie, daß die
Todten noch unter den Lebenden umwandeln, und als Zuhörer und
Zuschauer von den Reden und Handlungen der Lebenden zugegen sind.
Sie gehen mit um so viel mehr Zuversicht an ihre Unternehmungen und
Geschäfte, im Vertrauen auf solche Schirmherren, und auch von jeder
heimlichen Schandthat hält sie die geglaubte Gegenwart der Vorfahren
zurück.
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