Page 654 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sicherheit, weil, wenn sie nicht schleunige Furcht den Priestern
kundgeben, sie ergriffen und vom Senate mit der Strafe für Gottlosigkeit
belegt werden.
Kindheit und heranwachsende Tugend werden von den Priestern
unterrichtet; für eine Grundlage in den Wissenschaften wird nicht früher
gesorgt, bis ein sittliches Fundament gelegt ist, denn sie lassen es sich
aufs höchste angelegen sein, gute und für den Bestand des Staatswesens
heilsame Gesinnungen und Grundsätze in die noch zarten und fügsamen
Gemüther der Kinder einzupflanzen. Wenn solche Lehren bei den
Kindern in Fleisch und Blut übergegangen sind, bleiben ihnen auch die
Männer getreu und bilden eine mächtige nützliche Schutzwehr des
Staatswesens, das nur dadurch zerfällt, daß die Laster, die aus
nichtsnutzigen Gesinnungen entspringen, um sich greifen.
Die Priester (sofern sie nicht Frauen sind, denn auch das weibliche
Geschlecht ist von diesem Stande nicht ausgeschlossen, wenn die Wahl
auch selten auf sie fällt, wie denn auch nur Wittwen und alte Frauen
gewählt werden) haben die auserwähltesten Frauen der Volksgenossen zu
Gattinnen.
Keiner Obrigkeit wird bei den Utopiern mehr Ehrerbietung gezollt,
und diese geht so weit, daß, wenn ein Priester ein Verbrechen begangen
hat, er keinem weltlichen Gerichte unterliegt; er wird Gott und sich
selbst überlassen. Die Utopier halten es nämlich nicht für erlaubt.
Denjenigen, ein so großer Frevler er auch sei, mit sterblicher Hand zu
berühren, der Gott auf eine so eigenartige Weise, gleichsam wie ein
Weihgeschenk, geweiht ist.
Diese Sitte ist um so leichter inne zu halten, als nur so wenige
Priester, und diese mit solcher Sorgfalt erwählt werden. Somit ereignet es
sich kaum einmal, daß, da aus den Guten nur der Beste zu so hoher
Würde lediglich seiner Tugend wegen erhoben wird, er zu Lastern und
Verderbtheit entartet; und, wenn es immerhin einmal geschieht, wie denn
die menschliche Natur wandelbar ist, so ist doch, da es sich ja nur um so
sehr Wenige handelt und diese außer den Ehren mit keiner Macht
bekleidet sind, von ihnen in Bezug auf öffentliche Schädigung des
Gemeinwesens nichts zu fürchten.
Sie haben deswegen so wenig Priester, damit nicht die Würde des
Standes, dem sie jetzt eine so hohe Verehrung entgegenbringen, dadurch,
daß Viele derselben theilhaft werden können, herabsinke; doch
insbesondere deswegen, weil sie es für sehr schwer halten, Viele zu
finden, die so sittlich gut sind, daß die dieser Würde würdig sind, die zu
bekleiden mehr als gewöhnliche Tugenden erforderlich sind.
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