Page 657 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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männlichen Mitglieder jeder Familie vor dem Familienvater Platz
                nehmen und die Hausfrau die Reihe der weiblichen Mitglieder schließt.
                     Das ist deswegen so vorgesehen, damit die Geberden und das

                Gebahren Aller von Denjenigen genau beobachtet werden können, die
                die häusliche Gewalt über die andern Alle haben; wie sie denn auch
                sorgsam daraus sehen, daß ein Jüngerer an diesem Orte mit einem
                Aelteren zusammengesetzt werde, damit nicht die Kinder, sich unter
                einander überlassen, diese Zeit mit kindischen Läppereien verbringen,
                während welcher sie gerade hauptsächlich fromme Furcht vor dem
                Himmlischen empfinden sollten, welche der stärkste und fast einzige

                Anreiz zur Tugend ist.
                     Bei ihren Opfern schlachten sie keine Thiere und wähnen nicht, daß
                sich die göttliche Güte an Blut und Mord freue, die Allem, was da lebt,
                das Leben nur gegeben hat, damit es sich froh auslebe.
                     Sie zünden Weihrauch an und andere Wohlgerüche und tragen
                zahlreiche Wachskerzen vor sich her, nicht, als ob sie nicht müßten, daß

                das Alles der göttlichen Natur in keiner Weise fördersam ist, wie es auch
                die Gebete der Menschen nicht sind, aber eine harmlose Art der
                Verehrung gefällt ihnen, und durch diese Düfte, Lichter und die anderen
                Ceremonien fühlen sich die Menschen, ich weiß nicht wie, gehoben und
                erheben sich mit um so viel fröhlicherem Gemüthe zur Anbetung Gottes.
                     Das Volk hat im Tempel weiße Kleider an, der Priester ist in bunte
                Farben gekleidet, eine Gewandung, die durch Arbeit und Schnitt und

                Mache bewundernswerth, doch von wenig kostbarem Stoffe ist, denn sie
                ist weder mit Gold durchwirkt, noch mit werthvollen, seltenen Steinen
                bestickt, sondern mit verschiedenen Vogelfedern so sinnreich und
                kunstvoll gearbeitet, daß der kostbarste Stoff den Werth der Arbeit nicht
                aufwiegen würde. Ueberdies, heißt es, sind in diesen Schwingen und
                Federn und in gewissen Anordnungen derselben, welche auf dem

                priesterlichen Gewande wahrzunehmen sind, gewisse verborgene
                Geheimnisse enthalten, durch deren bekannte Auslegung (die von den
                Priestern sorgfältig überliefert wird) sie an die ihnen zu Theil
                gewordenen Wohlthaten Gottes und umgekehrt auch an die Gott
                schuldige Pietät, sowie an die Pflichten, die sie gegenseitig unter
                einander zu erfüllen haben, erinnert werden.
                     Sobald sich der Priester in diesem Ornate auf der Schwelle des

                Heiligthums zeigt, werfen sie sich insgesammt verehrungsvoll zu Boden,
                unter so allgemeinem tiefen Schweigen, daß dieser Anblick allein schon
                einen gewissen überirdischen Schauer einflößt, als ob eine Gottheit
                anwesend sei.





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