Page 656 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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matteres und gleichsam zweifelhaftes die Gemüther gesammelt würden
                und das Gefühl der Andacht sich erholte.
                     Denn wenn auch nicht eine und dieselbe Religion auf der Insel

                herrscht, so stimmen doch die Glaubensbekenntnisse, so verschiedentlich
                und vielfach sie auch sind, darin überein, daß sie auf verschiedenen
                Wegen in der Verehrung der göttlichen Natur die in einem Endziel
                zusammenkommen; daher sieht und hört man in den Tempeln nichts,
                was nicht für alle Kulte gemeinsam zu passen schiene.
                     Der besondere Gottesdienst einer Sekte wird in ihren Privathäusern
                abgehalten. Der allgemeine öffentliche Gottesdienst ist so beschaffen,

                daß keiner Privateigenheit eines Kultus zu nahe getreten wird. Daher ist
                kein Götterbild im Tempel zu erblicken, damit es Jedem unbenommen
                bleibe, unter welcher Gestalt er sich Gott nach seiner besonderen
                Religion vorstellen will, sie rufen Gott nicht unter einem bestimmten
                Namen, sondern nur unter dem des Mythras an, mit welchem Worte sie
                alle einmüthig die Natur her göttlichen Majestät bezeichnen, was diese

                auch sei; und es werden keine Gebete gesprochen, die nicht ein Jeder
                vorbringen könnte, ohne sich gegen seine Sekte zu verfehlen.
                     An den Endfesttagen kommen sie Abends noch nüchtern zusammen,
                um Gott für das glücklich vollbrachte Jahr oder desgleichen Monat,
                dessen letzer Tag dieser Festtag ist, Dank zu sagen; am nächsten Tag, das
                ist am Anfangsfesttage, strömen sie früh in die Tempeln zusammen, um
                für das folgende Jahr oder den folgenden Monat, das oder der durch

                diesen Festtag eingeweiht wird, Glück und Heil zu erbitten.
                     Bevor sie sich an den Endfesttagen nach dem Tempel begeben,
                bekennen zu Hause die Frauen, indem sie ihren Männern, die Kinder,
                indem sie den Eltern zu Fußen fallen, daß sie gesündigt haben, sei's
                durch Begehung eines direkten Vergehens, sei's durch fahrlässige
                Erfüllung einer Pflicht, und bitten für ihren Fehler um Verzeihung; und

                so wird jede leichte Volke, die etwa aufgestiegen war und den Frieden
                am häuslichen Himmel verdunkelt hatte, zu voller Genugthuung
                verflüchtigt, so daß sie sie (Utopier) mit reinem und heiterem Gemüthe
                dem Gottesdienste beiwohnen können, denn mit getrübtem anwesend zu
                sein, verbietet ihnen ihr Gewissen, und wenn sie sich daher eines gegen
                jemand gehegten Grolles oder Zornes bewußt sind, so drängen sie sich
                nicht in das Gotteshaus, so lange sie sich nicht versöhnt und ihre Herzen

                von unlauteren Leidenschaften gereinigt haben, aus Furcht, daß die
                Rache des Himmels sie treffe.
                     Sobald sie eintreten, begeben sich die Männer auf die rechte Seite
                des Tempels, die Frauen auf die linke, dann ordnen sie sich so, daß die





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