Page 658 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Nachdem sie eine Weile am Boden verweilt, erheben sie sich auf ein
                vom Priester gegebenes Zeichen wieder und lobsingen Gott, wozu
                zwischendurch Instrumentalmusik ertönt; die betreffenden Instrumente

                sind großentheils von anderer Gestalt als die in unserem Erdkreise
                bekannten. Die meisten übertreffen die bei uns üblichen bedeutend an
                Sanftheit des Tons, manche sind mit den unsrigen nicht einmal zu
                vergleichen.
                     In einem Punkte aber sind uns die Utopier zweifellos bei weitem
                voraus, nämlich darin, daß ihre Musik, sei es Instrumental-, sei es
                Vokalmusik, so vorzüglich die natürlichen Gemüthsbewegungen

                nachahmt und zum Ausdrucke bringt, und die Töne durchweg so
                fachgemäß gehalten sind, daß, ob es sich um flehendes Gebet, oder um
                fröhliche, sanfte, stürmische, traurige, zornige Rede handelt, die Form
                der Melodie sich so treffend dem Sinne anschmiegt, daß die Gemüther
                der Zuhörer wunderbar ergriffen, durchdrungen, entflammt werden.
                     Zuletzt sprechen Priester und Volk feierliche Gebete zusammen in

                Worten, die so gefaßt sind, daß, was Alle hersagen, Jeder auch auf sich
                selbst beziehen kann. In diesen Gebeten erkennen sie Gott als den
                Allesregierer an, und sagen für zahllose empfangene Wohlthaten Dank,
                insbesondere aber dafür, daß sie durch die Gunst Gottes in dem
                glücklichsten Staatswesen, das es gibt, das Licht der Welt erblickt haben,
                und jener Religion theilhaft geworden sind, die sie für die wahrste
                halten.

                     Wäre das ein Irrthum, oder gäbe es in beiden Beziehungen ein
                Besseres, das mehr Gottes Billigung habe, so bitten sie ihn, daß er sie
                erleuchte und daß sie bereit seien, ihm in Allem zu folgen, welche Wege
                er sie auch weise; wenn aber diese Staatsform die beste ist und ihre
                Religion die richtigste, dann möge ihnen selbst Gott Standhaftigkeit
                verleihen und die Gesammtheit der Sterblichen zur Einführung derselben

                Lebenseinrichtungen und zum selben Gottesglauben bewegen, wenn es
                nicht sein unerforschlicher Wille sei, daß diese Verschiedenheit der
                Religionen bestehe, weil er daran Gefallen findet.
                     Schließlich bitten sie um einen leichten seligen Tod und um
                Aufnahme zu Gott; wie bald oder wie spät das geschehen solle, darum
                wagen sie nicht zu bitten. Und wenn es, ohne Gottes Majestät zu
                verletzen, geschehen könne, so liege es ihnen vielmehr am Herzen, selbst

                den schwersten Tod zu erleiden und zu Gott zu gehen, als ihm sogar um
                den preis des glücklichsten Lebenslaufes so viel länger fern zu bleiben.
                     Wenn sie dieses Gebet gesprochen haben, werfen sie sich abermals
                zu Boden und stehen bald darauf wieder auf und gehen sodann zum





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