Page 703 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Viertes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                    Die Kämpfe zwischen Volk und Senat führten zur Freiheit und
                                               Macht der Republik.


                Ich will nicht unterlassen, über die Kämpfe zu sprechen, die Rom vom
                Tode der Tarquinier bis zur Einführung des Tribunats durchzumachen
                hatte. Auch will ich einiges gegen die verbreitete Meinung anführen,
                Rom sei eine aufrührerische Republik und so voller Wirren gewesen, daß

                es jedem andern Freistaat nachgestanden hätte, wären diese Mängel nicht
                durch sein Glück und seine kriegerische Tüchtigkeit ausgeglichen
                worden. Daß das Glück und das Kriegswesen Roms Ursachen seiner
                Weltmacht waren, leugne ich nicht, aber man scheint zu übersehen, daß
                da, wo ein gutes Kriegswesen ist, auch gute Ordnung sein muß, und daß

                es da auch selten an Glück fehlt. Doch kommen wir zu den besonderen
                Eigentümlichkeiten Roms!
                     Mir scheint, wer die Kämpfe zwischen Adel und Volk verdammt, der
                verdammt auch die erste Ursache für die Erhaltung der römischen
                Freiheit. Wer mehr auf den Lärm und das Geschrei solcher Kämpfe sieht
                als auf ihre gute Wirkung, der bedenkt nicht, daß in jedem Gemeinwesen
                die Gesinnung des Volkes und der Großen verschieden ist und daß aus

                ihrem Widerstreit alle zugunsten der Freiheit erlassenen Gesetze
                entstehen. Auch bei Rom läßt sich das leicht erkennen. Denn von den
                Tarquiniern bis zu den Gracchen, in einem Zeitraum von über
                dreihundert Jahren, hatten diese Kämpfe in Rom selten Verbannungen
                zur Folge und noch seltener Blutvergießen. Man kann sie also weder für
                schädlich noch einen Staat für innerlich zerklüftet halten, wenn durch

                diese Zwistigkeiten in einem so langen Zeitraum nur acht bis zehn
                Bürger verbannt, noch weniger hingerichtet und nicht viele zu
                Geldstrafen verurteilt wurden. Ebensowenig kann man eine Republik
                schlecht eingerichtet nennen, die so viele Beispiele an Tugend
                aufzuweisen hat. Denn gute Beispiele entstehen aus guter Erziehung,
                diese aus guten Gesetzen und die guten Gesetze aus jenen Kämpfen, die
                viele unüberlegt verdammen. Wer ihr Ergebnis genau prüft, wird finden,

                daß sie keine Verbannung oder Gewalttat zum Schaden des öffentlichen







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