Page 708 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sechstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                    Ob man Rom eine Verfassung geben konnte, die die Feindschaft
                                       zwischen Volk und Senat aufhob.


                Wir haben oben die Folgen der Kämpfe zwischen Volk und Senat
                untersucht. Wenn man sie bis zur Zeit der Gracchen verfolgt, wo sie den
                Untergang der bürgerlichen Freiheit herbeiführten, drängt sich einem der
                Wunsch auf, Rom möchte seine großen Erfolge ohne solchen Zwiespalt

                im Innern erlangt haben. Es scheint mir daher der Betrachtung wert, ob
                man Rom eine Verfassung geben konnte, die diese Zwistigkeiten aufhob.
                Um das zu entscheiden, muß man einen Vergleich mit den Freistaaten
                ziehen, die ohne so große Zwietracht und Unruhen lange bestanden
                haben. Man muß ihre Verfassung prüfen und erwägen, ob sie sich in

                Rom hätte einführen lassen.
                     Beispiele bieten, wie schon gesagt, für das Altertum Sparta, für die
                Gegenwart Venedig. In Sparta herrschte ein König mit einem kleinen
                Senat; in Venedig hat die Regierung keine verschiedenen
                Bezeichnungen, sondern alle, die an ihr teilnehmen können, heißen
                Edelleute. Der Zufall schuf diese Staatsform mehr als die Weisheit der
                Gesetzgeber, denn es hatten sich aus den oben genannten Gründen

                zahlreiche Einwohner auf die Inseln zurückgezogen, auf denen heute
                Venedig steht, und als die Volkszahl so zunahm, daß sie Gesetze
                brauchten, um in Gesellschaft zu leben, richteten sie eine Regierung ein
                und versammelten sich oft, um über die Angelegenheiten der Stadt zu
                beraten. Als sie ihre Zahl für ein Gemeinwesen hinreichend hielten,
                schlossen sie alle Neuhinzugekommenen von der Regierung aus. Mit der

                Zeit, als durch die Zunahme der ausgeschlossenen Einwohner das
                Ansehen der an der Regierung teilnehmenden stieg, nannte man diese
                Edelleute und die anderen Volk. Dieser Zustand konnte ohne Unruhen
                entstehen und sich erhalten, denn bei seiner Entstehung gehörten alle
                Einwohner Venedigs zur Regierung, es konnte sich also keiner beklagen,
                und die später hinzugekommenen fanden ein fest geschlossenes
                Staatswesen vor und hatten weder Ursache noch Gelegenheit, Unruhen

                zu erregen. Eine Ursache hatten sie nicht, denn es wurde ihnen ja nichts
                genommen, und Gelegenheit auch nicht, denn die Regierung hielt sie im





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