Page 705 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Fünftes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                  Ob die Freiheit sicherer vom Volk oder von den Großen geschützt
                   wird, und wer größere Ursache zu Aufständen hat, derjenige, der
                            etwas erwerben oder der Erworbenes behalten will.


                Von weisen Gesetzgebern wurde der Schutz der Freiheit stets zu den
                notwendigsten Einrichtungen einer Republik gezählt. Je nachdem, wie
                diese Einrichtung getroffen wurde, ist die bürgerliche Freiheit von

                kürzerer oder längerer Dauer. Da es nun in jedem Staatswesen Große und
                Volk gibt, ist man im Zweifel gewesen, wem man diesen Schutz
                anvertrauen solle. In Sparta und zu unsrer Zeit in Venedig wurde er dem
                Adel überlassen, bei den Römern aber dem Volke. Man muß also
                untersuchen, welche von diesen Republiken die bessere Wahl getroffen

                hat. Hält man sich an Vernunftschlüsse, so läßt sich beides rechtfertigen.
                Betrachtet man aber den Erfolg, so wird man sich für den Adel
                entscheiden, denn die Freiheit von Sparta und Venedig hat längere Zeit
                gewährt als die von Rom.
                     Beginnen wir mit den Vernunftschlüssen. Ergreift man zunächst die
                Partei der Römer, so kann man sagen, der Schutz einer Sache muß denen
                anvertraut werden, die am wenigsten Lust haben, sie zu mißbrauchen.

                Betrachtet man das Streben des Adels und des Volkes, so findet man bei
                jenem ohne Zweifel ein großes Verlangen zu herrschen, bei diesem aber
                nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden, somit einen stärkeren
                Willen, in Freiheit zu leben, da es von ihrem unrechtmäßigen Besitz
                weniger hoffen kann als die Großen. Werden daher Leute aus dem Volke
                zu Hütern der Freiheit bestellt, so werden sie vernünftigerweise mehr

                dafür sorgen, und da sie selbst sie nicht vergewaltigen können, auch
                andre daran hindern.
                     Andrerseits sagen die Verteidiger der Verfassungen Spartas und
                Venedigs, man tue in doppelter Hinsicht gut, den Schutz der Freiheit den
                Großen anzuvertrauen. Einmal befriedige man dadurch deren Ehrgeiz, da
                sie bei größerem Einfluß im Staate allen Grund hätten, zufrieden zu sein,
                und zweitens nähme man dadurch den unruhigen Köpfen im Volke eine

                Gewalt, die in einer Republik zu zahllosen Zwistigkeiten und Unruhen
                führen und den Adel zur Verzweiflung bringen könne, was mit der Zeit





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