Page 700 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Doch kommen wir zu Rom! Vgl. Polybios, VI, 43 f., und VI, 11.
                Diese Stadt hatte zwar keinen Lykurg, der sie von Anfang an derart
                ordnete, daß sie lange Zeit frei leben konnte, doch führte die Uneinigkeit

                zwischen Volk und Senat so viele günstige Umstände herbei, daß der
                Zufall das tat, was der Gesetzgeber versäumt hatte. Wenn also Rom nicht
                das erste Glückslos zog, so doch das zweite, und wenn seine ersten
                Einrichtungen mangelhaft waren, so führten sie doch nicht von dem
                geraden Weg zur Vollkommenheit ab. Denn Romulus und alle übrigen
                Könige gaben viele gute, auch der Freiheit gemäße Gesetze; da aber ihr
                Zweck die Gründung eines Königreiches und nicht eines Freistaates war,

                so fehlten in Rom, als es frei wurde, viele für die Freiheit nötige
                Einrichtungen, die von den Königen nicht getroffen waren. Als nun die
                Könige aus den oben genannten Gründen die Herrschaft verloren, setzten
                ihre Vertreiber an Stelle der Könige sofort zwei Konsuln ein und
                verdrängten damit nur den Königsnamen, nicht die Königsgewalt aus
                Rom. Infolgedessen bestand der Staat nun aus Konsuln und Senat, also

                nur aus zweien der oben genannten drei Formen, der Fürsten- und
                Adelsherrschaft, und es blieb noch der Volksherrschaft Raum zu geben.
                Als daher der römische Adel aus den unten anzuführenden Gründen
                übermütig wurde, erhob sich das Volk gegen ihn, und um nicht alles zu
                verlieren, mußte er dem Volk seinen Anteil an der Regierung abtreten.
                Andrerseits behielten die Konsuln und der Senat so viel Ansehen, daß sie
                ihren Rang im Staate behaupten konnten. So entstand die Einrichtung der

                Volkstribunen, durch die der Staat vollends befestigt wurde, denn nun
                waren alle drei Regierungsformen vertreten. So günstig war Rom das
                Geschick, daß es in derselben Stufenfolge und aus den gleichen
                Ursachen, die wir oben erwähnten, von der Königsherrschaft über die
                Herrschaft der Vornehmen zur Volksherrschaft überging, ohne die ganze
                Königsgewalt dem Adel auszuliefern und ohne die Gewalt des Adels

                ganz dem Volke zu geben. Die Mischung aller drei Regierungsformen
                führte zu einem vollkommenen Staat, und diese Vollkommenheit
                entsprang aus der Uneinigkeit zwischen Volk und Senat, wie in den zwei
                folgenden Kapiteln ausführlich gezeigt werden soll.




















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