Page 699 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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noch vor Amtspersonen haltmachte, und da jeder auf seine Art lebte,
                fügte man sich täglich tausendfaches Unrecht zu. So kehrte man denn
                notgedrungen, sei es unter dem Einfluß eines redlichen Mannes, oder um

                der Anarchie zu entgehen, von neuem zur Fürstenherrschaft zurück, und
                aus dieser von Stufe zu Stufe, in der nämlichen Art und aus denselben
                Gründen, wieder zur Zügellosigkeit.
                     In diesem Kreislauf hat sich die Regierung aller Staaten bewegt und
                bewegt sich noch, und doch kehren sie selten zu den gleichen
                Regierungsformen zurück; denn kaum ein Staat besitzt so viel
                Lebenskraft, daß er solche Umwälzungen mehrmals durchmachen kann,

                ohne zugrunde zu gehen. Wohl aber geschieht es, daß ein Staat in seinen
                Wirren, wenn es ihm dauernd an Kraft und gutem Rat fehlt, in die
                Gewalt eines Nachbarstaates kommt, in dem bessere Ordnung herrscht.
                Aber geschähe das nicht, so könnte sich jeder Staat ohne Ende im Kreis
                dieser Regierungsformen drehen.
                     Nach meiner Meinung sind alle diese Staatsformen verderblich, die

                drei guten wegen ihrer Kurzlebigkeit und die drei andern wegen ihrer
                Schlechtigkeit. In Erkenntnis dieser Mängel haben weise Gesetzgeber
                jede von ihnen an sich gemieden und eine aus allen dreien
                zusammengesetzte gewählt. So Polybios X, 2-5, und Aristoteles, Politik
                II, 3,9, von Lykurg. Diese hielten sie für fester und dauerhafter, da sich
                Fürsten-, Adels- und Volksherrschaft, in ein und demselben Staat
                vereinigt, gegenseitig überwachen.

                     Unter den Verfassungen, die in dieser Hinsicht das meiste Lob
                verdienen, steht die des Lykurg; denn er gab in Sparta dem König, dem
                Adel und dem Volk sein Recht und schuf damit einen Staat, der zu
                seinem höchsten Ruhm über achthundert Jahre in völliger Ruhe
                bestanden hat. Vgl. Polybios, VI, 11. Das Gegenteil erfuhr Solon, Athens
                Gesetzgeber; denn die von ihm eingeführte Demokratie war von so

                kurzer Dauer 594-560 v. Chr., daß er selbst noch die Tyrannei des
                Pisistratus erlebte. Nach vierzig Jahren wurden zwar dessen Erben 514
                wurde Hipparch ermordet, 510 Hippias vertrieben. verjagt und Athen
                kehrte zur Freiheit zurück, da es die Demokratie nach Solons Gesetzen
                wieder annahm; es erhielt sie sich aber nicht länger als hundert Jahre,
                obwohl zu ihrer Stützung viele Einrichtungen getroffen wurden, um den
                Übermut der Großen und die Zügellosigkeit der Menge niederzuhalten,

                zwei Übel, die Solon nicht bedacht hatte. Jedenfalls bestand Athen im
                Vergleich zu Sparta nur sehr kurze Zeit, weil es der Demokratie nicht die
                Macht eines Fürsten und die des Adels beigesellt hatte.







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