Page 784 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtunddreißigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                     Schwache Republiken sind unschlüssig und können sich nicht
                entscheiden. Sie fassen ihre Entschlüsse mehr aus Not als aus eigener
                                                         Wahl.


                Als in Rom eine verheerende Pest wütete, 463 v. Chr. S. Livius III, 6.
                glaubten die Volsker und Äquer die Zeit gekommen, Rom
                niederzuwerfen. Sie brachten daher ein gewaltiges Heer auf, griffen die

                Latiner und Herniker an und verwüsteten ihr Land, so daß diese
                gezwungen wurden, in Rom Beschwerde zu führen und um Schutz zu
                bitten. Die durch die Seuche bedrängten Römer gaben zur Antwort, sie
                sollten sich selbst mit den eignen Waffen verteidigen, denn Rom könnte
                ihnen nicht helfen. Hieraus erkennt man den hohen Sinn und die

                Klugheit des Senats. Immer wollte er, im Glück wie im Unglück, Herr
                der Beschlüsse seines Volkes bleiben, und er schämte sich nicht, etwas
                gegen seinen Brauch oder gegen frühere Beschlüsse zu tun, wenn es die
                Notwendigkeit gebot. Der Senat hatte nämlich früher jenen Völkern
                verboten, zu ihrer Verteidigung zu den Waffen zu greifen. Ein weniger
                kluger Senat hätte sich also etwas zu vergeben vermeint, wenn er ihnen
                die Selbstverteidigung erlaubte. Allein er beurteilte die Dinge stets

                richtig und ergriff immer die am wenigsten schlimme Maßregel als die
                beste. Denn er sah wohl ein, daß es ein Übel war, seine Untertanen nicht
                verteidigen zu können, ein Übel, daß sie ohne die Römer zu den Waffen
                griffen, aus den angeführten Gründen sowohl wie aus vielen andern, die
                naheliegen. Nichtsdestoweniger sah er voraus, daß sie in ihrer Not
                unfehlbar zu den Waffen greifen würden, da sie den Feind auf dem Halse

                hatten, und so wählte er das ehrenvollere Teil und erlaubte ihnen, das zu
                tun, was sie doch tun mußten, damit sie vom notgedrungenen
                Ungehorsam nicht zum mutwilligen übergingen. Man sollte nun zwar
                glauben, daß jede Republik dies Verfahren einschlagen müßte, und doch
                verstehen schwache und schlecht beratene Republiken nicht, sich dazu
                zu entschließen und in diesem Fall aus der Not eine Tugend zu machen.
                     Der Herzog von Valentinois Cäsar Borgia war 1498 vom König

                Ludwig XII. von Frankreich zum Herzog von Valentinois ernannt
                worden. Er eroberte 1501 Faënza. (S. Lebenslauf, 1501.) Florenz mußte





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