Page 809 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Fünfzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                 Kein Rat und keine Behörde darf die Staatsgeschäfte zum Stillstand
                                                  bringen können.


                Die römischen Konsuln Titus Quinctius Cincinnatus und Gnejus Julius
                Mento hatten sich entzweit und alle Staatsgeschäfte zum Stillstand
                gebracht. Livius IV, 26. (432 v. Chr.) Als der Senat dies sah, forderte er
                sie auf, einen Diktator zu ernennen, damit dieser täte, was wegen ihrer

                Zwietracht nicht geschehen konnte. Die Konsuln aber, in allem andern
                uneins, stimmten darin überein, daß sie keinen Diktator ernennen
                wollten. Der Senat wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er sich der
                Tribunen bediente, die mit Ermächtigung des Senats die Konsuln zum
                Gehorsam zwangen.

                     Hier ist zunächst der Nutzen des Tribunats zu bemerken, das nicht
                allein dazu diente, den Übermut der Mächtigen gegen das Volk zu
                zügeln, sondern auch die Eifersucht unter den Mächtigen selbst.
                Zweitens ergibt sich, daß man eine Republik nie so einrichten darf, daß
                einige wenige einen Beschluß aufhalten können, der zur
                Aufrechterhaltung der gewöhnlichen Staatsgeschäfte erforderlich ist.
                Wenn man z.B. einem Rat die Befugnis gibt, die Ehrenstellen und Ämter

                zu verteilen, oder einer Behörde die Ausführung eines Geschäfts
                überträgt, muß man entweder dafür sorgen, daß sie es unter allen
                Umständen ausführt, oder anordnen, daß, wenn sie es nicht besorgen
                will, ein andrer es übernehmen kann und muß. Sonst ist die Einrichtung
                mangelhaft und gefährlich, wie es in Rom gewesen wäre, hätte man dem
                Eigensinn der Konsuln nicht die Amtsgewalt der Tribunen

                entgegensetzen können.
                     In Venedig erteilt der Große Rat die Ehrenstellen und Ämter.
                Manchmal geschah es, daß die ganze Versammlung aus Groll oder
                infolge boshafter Aufhetzung keine Nachfolger für die städtischen
                Behörden wie für die des venezianischen Herrschaftsgebietes ernannte.
                Dadurch entstand die größte Verwirrung, weil mit einem Mal in den
                unterworfenen Gebieten wie in der Stadt selbst die gesetzmäßigen

                Richter fehlten. Man konnte auch nicht eher etwas erlangen, bevor der
                Große Rat zufriedengestellt oder überlistet war. Dieser Unfug hätte





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