Page 804 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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der Beurteilung der Ereignisse und ihrer Ursachen; lernen sie diese dann
                aber im einzelnen kennen, so sehen sie ihren Irrtum ein.
                     Nach dem Jahre 1494, als die Häupter der Stadt S. Kap, 7, Anm. 1.

                aus Florenz vertrieben waren, bestand keine geordnete Regierung,
                vielmehr eine Art zügelloser Ehrgeiz, und es ging mit den öffentlichen
                Angelegenheiten immer schlimmer. Viele Männer des Volkes, die den
                Verfall der Stadt sahen und keine andre Ursache erkannten, schoben die
                Schuld auf den Ehrgeiz irgendeines Mächtigen, der die Unordnung
                begünstige, um eine Staatsverfassung nach seinem Gutdünken zu
                schaffen und dem Volke die Freiheit zu rauben. Diese Leute standen in

                den Hallen und auf den Plätzen, verleumdeten viele Bürger und drohten
                ihnen, wenn sie selbst jemals in die Signoria kämen, ihre Arglist
                aufzudecken und sie zu bestrafen. Oft kam es nun, daß einer von ihnen
                ans Staatsruder gelangte, aber sobald er im Amte war und die Dinge
                mehr aus der Nähe sah, erkannte er die Ursachen der Unordnung, die
                drohenden Gefahren und die Schwierigkeit, ihnen abzuhelfen. Als er nun

                sah, daß die Umstände und nicht die Menschen die Ursache der
                Unordnung waren, änderte er plötzlich seine Gesinnung und sein
                Benehmen, denn die Kenntnis der Einzelheiten benahm ihm die
                Täuschung, in der er bei der Betrachtung des Ganzen befangen war. Wer
                ihn früher als Privatmann hatte reden hören und ihn nun an der Spitze
                des Staates ganz ruhig sah, schrieb dies nicht der richtigeren Einsicht in
                die Dinge zu, sondern glaubte, daß er von den Großen herumgebracht

                und bestochen worden sei. Und da das bei vielen und oftmals geschah, so
                entstand daraus beim Volk ein Sprichwort: Sie haben eine Gesinnung auf
                dem Platz und eine im Rathaus.
                     Erwägt man also alles Angeführte, so sieht man, daß man dem Volke
                bald die Augen öffnen kann, wenn man bei der Wahrnehmung, daß es
                sich im Ganzen täuscht, ein Mittel findet, es zum Eingehen aufs Einzelne

                zu zwingen, wie es Pacuvias in Capua und der Senat in Rom tat. Auch
                läßt sich, wie ich glaube, der Schluß ziehen, daß kein kluger Mann das
                Urteil des Volkes im Einzelnen, bei der Verteilung der Ämter und
                Würden, zu scheuen braucht; denn gerade darin täuscht sich das Volk
                nicht, und täuscht es sich auch einmal, so doch weit seltener als die
                wenigen, die dergleichen Verteilungen vorzunehmen haben. Es scheint
                mir nicht überflüssig, im nächsten Kapitel zu zeigen, auf welche Weise

                der Senat das Volk bei der Wahl der Behörden zu täuschen pflegte.











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