Page 800 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sechsundvierzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                 Die Menschen springen von einem Ehrgeiz zum andern über. Zuerst
                    sucht man kein Unrecht zu leiden, dann andern Unrecht zu tun.


                Als das römische Volk seine Freiheit wiedererlangt und seinen früheren
                Rang wieder eingenommen, ja noch einen weit höheren erlangt hatte, da
                viele Gesetze zur Erhöhung seiner Macht erlassen waren, schien es
                natürlich, daß Rom nun einmal zur Ruhe käme. Trotzdem zeigt die

                Erfahrung das Gegenteil, denn jeden Tag entstanden neue Unruhen und
                Zwistigkeiten. Titus Livius gibt den Grund dafür sehr scharfsinnig an. Es
                scheint mir daher am Platz, seine Worte genau wiederzugeben. III, 65.
                Immer, sagt er, wurde der Adel oder das Volk übermütig, sobald der
                andre Teil sich demütigte. Hielt sich das Volk ruhig in seinen Schranken,

                so begannen die jungen Adligen es zu kränken, und die Tribunen
                vermochten wenig dagegen, da sie selbst gekränkt wurden. Dem Adel
                schien es zwar, daß seine Jugend zu unbändig war, aber wenn schon das
                Maß überschritten wurde, sah er es gern, daß es durch die Seinigen und
                nicht durch das Volk geschah. So nahm sich in dem Wunsche, die
                Freiheit zu beschützen, jeder so viel heraus, daß er den andern
                unterdrückte.

                     Die Regel bei solchen Vorfällen ist diese. Während die Menschen
                dahin streben, daß sie selbst nichts zu fürchten brauchen, beginnen sie
                andern Furcht einzuflößen und fügen jenen die Unbill zu, die sie von
                sich abwehren wollen, als ob es notwendig wäre, entweder zu beleidigen
                oder beleidigt zu werden. Hieraus ersieht man unter anderm, was für
                Entschlüsse die Republiken fassen, wie die Menschen von einem Ehrgeiz

                zum andern überspringen und wie wahr das Wort ist, das Sallust dem
                Cäsar in den Mund legt: Quod omnia mala exempla bonis initiis
                orta sunt. Vgl. Sallust: Bellum Catilinarium, LI (Daß alle schlimmen
                Beispiele aus guten Anfängen entsprungen sind.) Wie oben gesagt,
                trachten die Ehrgeizigen in den Republiken zunächst danach, von
                Behörden und Privatleuten nicht beleidigt zu werden. Zu diesem Zwecke
                suchen sie sich Freunde zu erwerben, und zwar durch anscheinend

                ehrbare Mittel, indem sie ihnen entweder mit Geld aushelfen oder sie
                gegen die Mächtigen in Schutz nehmen. Da dies nun ein gutes Werk





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