Page 798 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Fünfundvierzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                 Die Übertretung eines gegebenen Gesetzes ist ein schlechtes Beispiel,
                 zumal wenn der Gesetzgeber sie selbst begeht. In einer Stadt täglich
                  neue Unbill zu begehen, ist für ihren Herrscher äußerst schädlich.


                Als der Vergleich geschlossen war und Rom seine alte Verfassung wieder
                erhalten hatte, Vgl. Livius III, 55 ff. lud Virginius den Appius vor das
                Volk, um seine Sache zu verteidigen. Er erschien in Begleitung vieler

                Adliger. Virginius befahl, ihn ins Gefängnis zu werfen. Appius begann
                zu schelten und an das Volk zu appellieren. Virginius sagte, er sei nicht
                wert, daß ihm das Recht der Berufung zuteil werde; das er selbst
                abgeschafft habe, noch daß er das von ihm beleidigte Volk zum
                Verteidiger habe. Appius erwiderte, man dürfte das Recht der Berufung

                nicht verletzen, das man mit solchem Eifer eingeführt hätte. Trotzdem
                wurde er eingekerkert und entleibte sich vor dem Gerichtstage selbst.
                Obwohl Appius durch sein verbrecherisches Leben jede Strafe verdient
                hatte, war es doch politisch falsch, die Gesetze zu verletzen, besonders
                das eben gegebene. Denn ich glaube nicht, daß man ein übleres Beispiel
                in einer Republik geben kann, als ein Gesetz zu machen und es nicht zu
                befolgen, zumal wenn der Gesetzgeber es selbst übertritt.

                     Florenz hatte nach 1494 S. Lebenslauf, 1494. seine Verfassung mit
                Hilfe des Mönches Girolamo Savonarola erneuert, dessen Schriften seine
                Gelehrsamkeit, Klugheit und Geisteskraft dartun. Unter andern
                Bestimmungen wurde zur Sicherung der Bürger ein Gesetz erlassen, daß
                gegen Urteile der acht Männer und der Signoria in Staatsverbrechen
                Berufung beim Volk eingelegt werden könne. Dies Gesetz hatte

                Savonarola seit langer Zeit in Vorschlag gebracht und nur mit großer
                Mühe durchgesetzt. Kurz nach seiner Bestätigung wurden fünf Bürger S.
                Kap. 7, Anm. 21. wegen Staatsverbrechen von der Signoria zum Tode
                verurteilt. Als sie aber Berufung beim Volk einlegen wollten, schlug man
                dies ab und übertrat somit das Gesetz. Das brachte den Mönch mehr um
                sein Ansehen als irgendein andrer Vorfall. Denn war die Berufung an das
                Volk nützlich, so mußte er sie jedem zugute kommen lassen; war sie es

                nicht, so durfte er sie nicht durchsetzen. Die Sache fiel um so mehr auf,
                weil der Mönch in allen Predigten, die er nach dem Bruch des Gesetzes





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